Im Schatten der Schuld. Till Angersbrecht

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Im Schatten der Schuld - Till Angersbrecht

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ausgemacht, wo das Recht eigentlich lag, der Angeklagte war nur selten ein unzweideutiger Verbrecher, oft trugen auch Kläger und Opfer einen beträchtlichen Teil der Schuld. Eindeutig waren nur Paragraphen, die Wirklichkeit konnte bisweilen derart komplex aussehen, dass man nach einem Richtspruch mit einem unguten Gefühl, vielleicht sogar mit einem schwer zu verdrängenden Schuldbewusstsein das hohe Haus verließ.

      Insofern bedeutete der vorliegende Fall eine seltene Ausnahme. Wenn ein Mensch einen Sprenggürtel trägt, um unschuldige Mitmenschen mit sich in den Tod zu reißen, dann lassen die Fakten keinerlei Zweifel und Ungewissheiten zu. Dann durfte man zu hundert Prozent sicher sein, dass der eigene Beruf unverzichtbar und schlechthin notwendig ist und einen durch nichts zu ersetzenden Sinn besitzt.

      Richterin Wollbruck war sich ihrer Sache so vollkommen gewiss, dass sie sich sogar gewissen Erinnerungen überließ, die mit dem anstehenden Verfahren absolut nichts zu schaffen hatten. Es gab da einen Mann, Wendelin de la Mar, dem sie vor einer Woche im Reitclub begegnet war. Sie verhehlte sich nicht, dass sie zum ersten Mal nach dem unglücklichen Abenteuer einer kaum einjährigen Ehe gleich zum Beginn ihres Studiums, also nach beinahe dreizehn Jahren, eine gewisse Neigung in sich aufkeimen sah, deren sie sich nach der Trennung aus jener völlig verfrühten Verbindung überhaupt nicht mehr fähig glaubte. Während des Studiums, der darauf folgenden Assistenzzeit und in den vergangenen fünf Jahren ihrer Stellung als Richterin hatte sie für Männer absolut keinen Blick gehabt, ihn nicht einmal haben dürfen. In die hohe Stellung als Richter gelangte man nicht als eine Frau, die sich nebenbei noch Affären leistet. Männer, das war ein Luxus, der für sie seit damals nicht mehr in Frage kam – so hatte sie jedenfalls noch bis vor kurzem geglaubt. Doch dieser junge Mann – er war möglicherweise zwei, vielleicht sogar drei Jahre jünger als sie - hatte ein so vorzügliches Auftreten, so angenehme Manieren. Eleganz, nein, das war keine treffende Bezeichnung. Eleganz hätte sie eher misstrauisch gestimmt, eine schöne Fassade konnte sich leicht als potemkinsches Werk erweisen, hinter dem sich der Bluff versteckt, aber Wendelin zeichnete sich durch ein ebenso vornehmes wie zurückhaltendes Auftreten aus.

      Zunächst einmal war es ja überhaupt bloßer Zufall gewesen - natürlich war es ein Zufall! -, dass er vor einer Woche im Reitclub sich gerade an ihrem Tisch niedersetzte. Er konnte nicht wissen, dass sie Richterin war, geschweige denn ihren Namen kennen und schon gar nicht den Mädchennamen, den sie vor ihrer kurzlebigen Ehe trug und den selbst ihre Gerichtskollegen nicht kannten. Im übrigen gab es keine strengen Sitzregeln im Club. Theoretisch konnte der Zufall jedes Mitglied mit jedem anderen zusammenwürfeln. Dazu war ein sozialer Club ja gedacht!

      Der Fremde hatte ihr eigentlich nur guten Appetit gewünscht. Danach war man jedoch völlig zwangslos auf das Reiten zu sprechen gekommen. Das alles war ja normal und im Grunde selbstverständlich. Sie musste sich davor hüten, jeder Begegnung mit zu großem Misstrauen entgegen zu sehen. Wenn man wie sie einen so gefährlichen Mädchennamen verheimlichen musste und überdies durch den eigenen Beruf noch zu äußerster Genauigkeit bis hin zum Misstrauen geradezu gedrillt und konditioniert war, dann neigte man natürlich zu übertriebener Vorsicht. Dennoch blieb es richtig und wahr, dass der Zufall und nichts anderes diesen Mann an ihren Tisch geführt hatte. Der Zufall hatte das Gespräch auf das Reiten gebracht. Dass sie anschließend über ihre Reisen in den Süden zu reden begannen, konnte ebenso wenig einen Anlass zu Zweifeln geben. War es nicht ein Zeichen von Offenheit und gutem Benehmen, dass er sich ihr dann auch regelrecht vorstellt hatte? Wendelin de la Mar, Unternehmenschef, Immobilien.

      Wissen Sie, nichts Besonderes, aber Verarmung braucht man in einer solchen Stellung glücklicherweise nicht zu fürchten - so hatte er sich in aller Bescheidenheit ausgedrückt. Sie musste sich eingestehen, dass es ihr einfach Spaß gemacht hatte, seiner ruhigen, nie übertreibenden, keineswegs einschmeichelnden, aber doch selbstbewussten Stimme zu lauschen.

      Alles weitere hatte sich dann mit gleicher Zwanglosigkeit ergeben. Man begegnete einander vor oder nach dem Ausritt, saß neuerlich beisammen, und da war es ihr schon beim zweiten Mal klar, dass sie der Begegnung mit Freude entgegen sah, ja bereitwillig auf seinen Vorschlag einging, sich künftig zu gemeinsamen Ausritten zu treffen. Erstaunlich war es, wie sehr sich Wendelin ihr gegenüber geöffnet hatte. In der Vergangenheit, so ließ er sie wissen, ohne jedoch viel Aufhebens von dieser Vertraulichkeit zu machen, sei es ihm keineswegs immer gut gegangen; nein, ganz im Gegenteil, seine Kindheit habe er leider in großer Armut verbringen müssen. Heute sehe er darin jedoch eher einen Vorteil.

      Wissen Sie, diese bescheidene Vergangenheit hat mich vor der bekannten Arroganz vieler Neureicher bewahrt, die gerne von oben herab auf ihre weniger begünstigten Mitmenschen blicken. Ich weiß, was es heißt, aus armen Verhältnissen nach oben gelangt zu sein.

      Wie gerecht und natürlich er bei der Einschätzung seiner früheren und jetzigen Lage war! Wirklich, ein nicht nur gut aussehender, sondern dazu noch ein für sie geistig ansprechender und anziehender Mann! Bei ihrem letzten Zusammentreffen wusste Thea Wollbruck auf einmal, dass sie nicht nein sagen würde, wenn er sie zu sich nach Hause einladen wird, beiläufig hatte er ja schon erwähnt, dass er ein Anwesen im grünen Viertel am Ostrand der Stadt besaß. Sie machte sich gar nichts mehr vor; sie wusste und hoffte bereits, dass aus der Begegnung mit diesem Mann eine Freundschaft, ja vielleicht sogar mehr werden würde.

      Seltsam, dass sie sich dieses Eingeständnis gerade in dem Augenblick machte, als sie sich der wartenden Menge im Saal gegenübersah, die ungeduldig auf den Beginn der Verhandlung harrte. Nein, sie brauchte sich wegen ihrer mäandernden Gedanken keine Vorwürfe zu machen, sondern konnte darin eher ein Zeichen untrüglicher Gewissheit sehen: Der Ausgang dieses Prozesses ließ eben gar keine Zweifel zu.

      Staatsanwalt Feindser war jetzt am Wort. Seine deutlichen Statements waren geeignet, sie in dieser Überzeugung zusätzlich zu bestärken. Man habe es, so Feindser, mit einem ebenso eindeutigen wie in seinen moralischen und kriminalistischen Dimensionen ungeheuerlichen Justizfall zu tun. Ein junges Mädchen aus bestem Hause, Julia v. Hochreith, habe sich gegen die Gesellschaft verschworen, obwohl ihr eben diese Gesellschaft ein Leben in sichtbarem Wohlstand und von hohem sozialen Rang zuteil werden ließ - anders als ihren vielen weniger begünstigten Mitbürgern, die ein hartes und oft auch ungerecht entbehrungsreiches Leben am Rand der Gesellschaft führen. Verzweiflung, das sei ja für niemanden ein Geheimnis, habe schon manche Menschen auf eine schiefe Bahn geleitet. Auch wenn es dafür gewiss keine Entschuldigung gebe – der Staat müsse sich nun einmal gegen diejenigen wehren, die ihn zu zerstören trachten –, so könnten wir die Motive solcher Rebellen doch immerhin halbwegs verstehen. Aber absolut jedes Verständnis fehle uns für einen Menschen, der von Luxus verwöhnt und von seinen Mitbürgern geachtet, sich dennoch dazu entschließt, dieselben mutwillig hinzumorden, denn nichts anderes, liebe Geschworene, hatte diese Frau sich vorgenommen. In keiner Gesellschaft gibt es Schlimmeres, als wenn gerade diejenigen, die ihr als Vorbild zu dienen hätten, das gerade Gegenteil tun, indem sie stattdessen gegen sie rebellieren und dabei nicht nur alle Regeln der Mitmenschlichkeit verletzen, sondern ihr Menschentum selbst mit Füßen treten.

      Feindser: Ich sage Ihnen, die Tatsache, dass diese Frau nicht dazu kam, ihr mörderisches Ziel zu verwirklichen, darf für das Gericht keinen Milderungsgrund abgeben. Wir haben sie genauso zu richten, als hätte sie Dutzende oder vielleicht Hunderte von Menschen auf dem Gewissen, denn nichts anderes hatte sie vor. Sie ist eine Terroristin, welche die ganze Strenge des Gesetzes verdient.

      Befriedigt lehnte sich Richterin Wollbruck zurück. Der Wahrheit gemäß muss dies verzeichnet werden, obwohl es manchem wohl kaum gefallen wird, dass ein Mensch sich nach dem Anhören solcher Grässlichkeiten einfach zurücklehnen kann und dabei zu allem Überfluss auch noch Befriedigung verspürt. Aber genauso verhielt es sich, und wir dürfen die Richterin dafür nicht übermäßig tadeln, denn sie dachte nicht in erster Linie an das Verbrechen, sondern daran, wie es ordnungsgemäß erfasst und behandelt wird. So gesehen, war sie zufrieden, denn so und nicht anders hatte sie sich die Anklage vorgestellt. Die Leitgedanken würde sie genauso entwickelt und herausgestellt haben. Nein, vielleicht mit etwas weniger Pathos.

      Feindser

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