Vernarbt. Ron Müller

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Vernarbt - Ron Müller

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Es war überdeutlich. Ich musste unbedingt wissen, wie es Mutter ging und was nun mit mir passieren sollte. Diese Ungewissheit war nicht zum Aushalten. Ich sprang in meine Sachen und nahm mehrere Stufen auf einmal, als ich nach unten eilte. Karl lächelte, als er sah, wie ich das Brot in mich hineinschlang und meinen Tee hinterher schüttete.

      »Na los, geh schon. Du hältst es hier doch sowieso nicht mehr aus.«

      Das stimmte.

      In Windeseile lief ich den Sandweg hinunter bis auf die Wiese, an deren Seite das Gemeindehaus stand und auf der anderen eine Reihe von Pappeln. Von dort führte ein Weg am nördlichen Ende des Dorfes wieder hinauf, zum vorletzten Haus direkt am Waldrand. Mich überkam Beklommenheit, als ich die Klinke der Gartentür herunterdrückte. Mutter war zu Hause. Durch das offene Küchenfenster sah ich auf dem Tisch einen Berg von Apfelschalen. Sie backte und sang währenddessen. Ich schlich leise neben den Fensterladen und glaubte, die Frau nicht zu kennen, die in unserer Küche hantierte. Nicht genug, dass sie einen Kuchen backte. Das tat sie sonst, wenn überhaupt, nur an Geburtstagen.

      Sie strahlte Unbeschwertheit aus. Ich war irritiert und mir ziemlich sicher, sie noch nie so gut gelaunt gesehen zu haben. Die Anstalt hatte geholfen, dachte ich und sah ihr weiter zu. Bis sie mich entdeckte.

      Als ihre Überraschung verflog, zogen sich ihre Mundwinkel nach oben. Hätte sie zudem einen freundlichen Gesichtsausdruck gehabt, dann hätte ein Lächeln daraus werden können. So gezwungen jedoch sah es unecht aus. Ich erwiderte es nicht, stattdessen betrat ich das Haus, um mich von ihr umarmen zu lassen. Aber auch das wollte nicht recht gelingen. Sie tat es so schnell und unbeholfen, dass ich nicht den Willen aufbrachte, meine Arme um sie zu legen. Ich behielt sie dort, wo sie waren.

      Was hatte ich falsch gemacht, dass es ihr so schwer fiel, mir normal zu begegnen? Ich suchte in ihren Augen nach der Antwort, doch sie wandte sich von mir ab und werkelte weiter an ihrem Kuchen. Sie hatte offensichtlich nicht vor, mit mir zu sprechen. Also fragte ich sie, wie es ihr gehe.

      Sie meinte: »Gut.«

      Ich fragte etwas anderes. Wieder gab es nur eine einsilbige Antwort. Es muss doch Dinge geben, über die wir zu reden haben – wir können uns nach den vielen Wochen nicht anschweigen, dachte ich und sprach weiter mit ihr. Bis ich nicht mehr wusste, worüber ich noch reden sollte und wehmütig wurde. Ich hatte mir mehr erhofft. Natürlich machte eine Anstalt aus Mutter keinen anderen Menschen, aber vielleicht doch einen, der sich mehr für mich interessierte, als für den Teig, den sie unentwegt knetete. Nur manchmal unterbrach sie kurz. Dann, wenn er zu sehr am Tisch klebte und sie eine Handvoll Mehl nahm und darauf verstreute. Sie war so vertieft, dass sie nicht aufzusehen oder mit mir zu sprechen brauchte.

      Ich blieb noch wenige Minuten bei ihr, dann schloss ich die Tür und ging in den Garten, beobachtete sie noch kurz durch das Fenster. Wir hatten uns nicht verabschiedet. Sie hatte mir nicht einmal hinterher geblickt, als ich das Haus verließ. Sie machte stattdessen mit ihrem Kuchen weiter, zerschnitt Äpfel in Scheiben und legte sie auf den ausgerollten Teig. Bei der Mitte des Blechs hörte ich sie wieder etwas summen. Als ich merkte, wie sie allmählich die Unbeschwertheit zurückbekam, mit der ich sie heute angetroffen hatte, machte ich mich auf den Rückweg. Ich wollte nicht noch hören, wie sie anfing zu singen, und dann ganz bei sich war.

      Ich wollte weg!

      Als ich durch das Gartentor ging, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass das mein wirklicher Wunsch war. Vielleicht hatte ich es vorher nie erkannt, weil es nicht sein konnte, als Kind der Mutter entfliehen zu wollen. Da gehörte es sich, ihre Nähe zu suchen, so wie ich es von den Anderen im Dorf vorgelebt bekam. Und ich hatte viel Kraft und Zeit aufgewendet, um tatsächlich in diese Richtung zu gehen. Aber je mehr ich mich angestrengt hatte, desto ferner wurde ich der Mutter. Bis zu dem Punkt, an dem ich sie wie eine Fremde hinter dem Küchenfenster stehen sah, und beschloss, dass es richtig war, was ich fühlte. Ich hätte schon gern gewusst, welche Gedanken ihr an diesem Vormittag durch den Kopf gegangen waren. Aber jedes Nachhaken hätte nur das Gefühl kaputt gemacht - das Gefühl, meiner Mutter mit dem Abschied näher gekommen zu sein, als in all den Jahren zuvor.

      Also ging ich zurück zu Karl, um bei ihm zu bleiben.

      Für vier Jahre.

      Kapitel 3

      Es verblieben nur wenige Wochen von meinem sechszehnten Jahr, als ich wusste, dass ich alles verwirkt hatte. Ich befand mich nicht mehr im Dorf. Dort war es mir nicht möglich, zu bleiben, nachdem es sich nicht länger leugnen lies, dass ich einen Fehler hatte. Aber ich lebte noch - das einzig Entscheidende.

      Ich erinnere mich, wie es ein halbes Jahr zuvor angefangen hatte. Es war zu der Zeit, als das Weibliche kam. Wäre es allein gekommen, hätte ich mich kaum von den anderen unterschieden, aber mit ihm kam das Begehren.

       Wäre doch nur das Begehren nicht gewesen … dann hätte alles so bleiben können.

      *

      An einem Wochenende kümmerte sich Karl nach dem Essen um die Küche. Was mich betraf, war diese Zeit der Mittagsruhe vorbehalten. Doch an diesem Tag kam es mir dafür in der Kammer zu warm vor. Also legte ich mich zwar auf das Bett, dessen rechte Seite die meine war, aber ich bemerkte bald, dass es unmöglich wurde, in den Schlaf zu finden. Ich schwitzte, zog das Hemd aus, allerdings kam die Hitze von innen. Mich quälte etwas ganz anderes. Wie von selbst griff ich nach der Decke und steckte sie dorthin, wo das herkam, was ich nicht kannte. Ich drückte mit der Hand so fest darauf, wie ich konnte, versuchte es zu ersticken. Doch der Druck verschaffte keine Linderung, er verschlimmerte meine Not, aber aus irgendeinem Grund brauchte ich diesen Schmerz und drückte noch stärker.

      So war es von da an immer an den Wochenenden nach dem Mittagessen. Oft verstand ich mir nicht anders zu helfen, als mich tief unterhalb des Bauches fest zu kneifen. Schmerz vermochte, es für Sekunden auflösen. Ich wusste nur nicht, wie ich es endgültig still werden lassen konnte. Ich ahnte ja nicht, dass es diese Möglichkeit gab, dass man es nicht ständig ertragen musste.

      Ich denke, es war die Ruhe in der Mittagsstunde, die mir immer wieder Gelegenheit gab, zu dem zurückzufinden, von dem ich erst viel später erfuhr, dass es Begehren war. Es dauerte nicht lange, bis ich bereits an den Vormittagen ahnte, wie es mich nach dem Essen heimsuchen würde. Und es steigerte sich beständig, bis es nicht mehr half, sich an ablenkende Dinge zu krallen und ich den Widerstand aufgab.

      Spätestens da wurde alles zu einem Fehler. Meine Wünsche und Vorstellungen wurden maßlos und verbanden sich mit einer heimlichen Vorfreude. Wochen später gierte ich danach, die nächstbeste fremde Hand zu nehmen und sie dorthin zu pressen, wo die Not am größten war. Damit ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte - damit sie machte, dass es aufhörte.

      Doch ich musste noch warten, bis ich lernte, wie man es aufhören ließ.

      *

      Es war nach dem Brand beim Nachbarn. Ein Teil vom Nebengelass der Mühle war in Rauch aufgegangen. Der Giebel unseres Hauses befand sich unglücklicherweise daneben, getrennt nur durch einen schmalen Weg. Keine Hürde für die Flammen. Wären wir ihrer eine viertel Stunde eher Herr geworden, wäre es für uns gut ausgegangen. So jedoch sprangen sie über. Ein überschaubarer Schaden, aber es sollte dennoch eine Woche dauern, ihn zu beheben. Erst hieß es, dass der Geselle etwas damit zu tun hatte - wahrscheinlich nur, weil man einen Schuldigen brauchte. Später musste der Müller selbst zugeben, dass er mit seiner Pfeife unachtsam war. Er war widerlich. Nur zu gern hätte er den Gesellen geopfert, um seinen Ruf unbeschadet zu lassen.

      In der Woche, in der

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