Korridorium – ein pluridimensionaler Thriller. Cory d'Or

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Korridorium – ein pluridimensionaler Thriller - Cory d'Or

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hatte schon in der E-Mail ein bisschen von mir erzählt: Dass ich im Bauamt einer kleinen Stadt in den neuen Bundesländern arbeite, da wenig zu tun habe, aber beschäftigt wirken will, weil ich am Gang zu den Toiletten sitze und die Kollegen mich hinter der Glastür gut sehen können, und dass ich angefangen habe, kleine »architektonische« Skizzen in den Computer zu tippen, inspiriert von den Anträgen auf meinem Schreibtisch und den Besichtigungen und Abnahmen, bei denen ich manchmal dabeisein darf.

      Und dass ich Musik brauche für die Veröffentlichung. Viel Musik. Ungewöhnliche Musik. Musik, die Bilder im Kopf macht.

      »Das Labyrinth des Minotaurus«, sagt er nachdenklich.

      »Ja. Ich hab dir ein paar Minotaurus-Fragmente geschickt, weil das doch auch mal Thema eurer Schlafkonzerte war und in der Musik vorkommt. Das verbindet uns sozusagen. Am 11. November will ich anfangen.«

      »So bald schon?« Mir rutscht das Herz in die Hose, als er das sagt. Ich bin viel zu spät dran mit meiner Suche nach Musik. Aber kleine Soundtracks zu den Geschichten wären mein Traum, und den will ich nicht so einfach aufgeben.

      »Was macht«, fragt er, »eine junge Frau wie du als Sachbearbeiterin im Bauamt?«

      »Ich hab in Leipzig Geschichte und Orientwissenschaften studiert, aber als Historikerin nichts gefunden. Tja und da … Jedenfalls dürfen meine Kollegen nichts von meinen literarischen Ambitionen wissen.«

      Tycho lächelt ein wenig spitzbübisch: »Ich verrat keinem was. Wie viele Texte liegen denn schon vor?«

      »Einen ersten Schwung habe ich schon, und ich will immer mindestens drei, vier im Voraus fertig haben. Was die Zuordnung der Musik angeht, würde ich euch völlig freie Hand lassen. Es sollen insgesamt knapp, äh, vierhundert werden.«

      Er zuckt bei der Zahl nicht zusammen. Schon mal gut.

      »Ich weiß«, fahre ich hastig fort, »dass es urst viel verlangt ist, aber …« Tycho unterbricht mich: »Kein Problem. Wir haben massig Material im Archiv, alles unveröffentlicht. Aber es sind schräge Sachen dabei.«

      »Find ich super«, sage ich.

      Tycho muss bei so viel Enthusiasmus grinsen: »Das wären dann Drones, Soundscapes, kompositorische Skizzen, Studio-Sessions, Field Recordings, psychoaktive Klangexperimente …«

      »Na, das klingt doch alles ganz schau! Was die jeweilige Dauer betrifft, hab ich gedacht, die Musik sollte immer in etwa so lange dauern, wie man zum lauten Lesen braucht, also so zwischen sieben Sekunden und sieben Minuten.«

      »Okay. Schick mir einen Text, und vierundzwanzig Stunden später hast du einen Soundtrack dazu. Sollte dir ein Stück nicht zusagen, kriegst du ein anderes.«

      Wow. Ich kann mein Glück gar nicht fassen. Meine geplante Veröffentlichung bekommt eine Begleitmusik! Aber …

      »Aber was«, frage ich besorgt, «wenn dir meine Texte nicht zusagen?«

      Tycho verzieht keine Miene: »Wird nicht passieren. Ich les sie gar nicht, sondern guck nur, wie lang sie jeweils sind.« Er lässt sich nichts anmerken – außer einem kleinen Funkeln in seinen Augen, das mir verrät, dass er das wohl nicht ganz ernst meint.

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       18.11.2011

      Ich betrete den Korridor. An die Türen zu beiden Seiten sind kleine Bretter genagelt, in die jemand grob mit einem Messer Wörter geritzt hat: »Schlucht« lese ich auf einer, »Horn« auf der zweiten, »Siedebecken« auf der dritten und auf der vierten »Hohlraum«. Auch die Tür am Ende des Korridors ziert ein solches Brett. »Die Auserkorene« steht hier, und mit einem Mal breitet sich ein prickelndes Glücksgefühl in mir aus. Andreia! Ich hatte die Suche schon fast aufgegeben. Ein Zettel ist unter das Brett geklemmt. Sofort erkenne ich ihre schön geschwungene Handschrift. »Bin gleich zurück.« Das »gleich« ist durchgestrichen, und darüber steht nun »einst«. Egal. Ich werde warten. Bestimmt hat sie von ihrem Zimmer aus eine hübsche Aussicht.

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       20.11.2011

      Ich betrete den Korridor und öffne die Tür zum Wohnzimmer. Allerdings ist in diesem Zimmer nichts wirklich das, was es zu sein scheint.

      Die Tür zum Beispiel ist in Wirklichkeit ein Buch, das mit Schneemänner taugen selten zum Zigarettenanzünden betitelt ist. Der Sessel ist eine Politesse mit Namen Edna Gierke. Der andere Sessel ist ein Stuhl, der jedoch von der Familie immer ›der Hocker‹ genannt wird. Die Standuhr ist eine Vitrine für die Algenschnitzelsammlung des Patriarchen Wasmuth, der aussieht wie ein Lampenschirm, tatsächlich jedoch der Teppich des Raumes ist.

      Das Klavier ist strenggenommen ein Spinett der Firma Gellwiesen, die inzwischen in den USA unter dem Namen Bellowmeadow bekannt geworden ist für ihre exquisiten Bisquits. Die blaue Wandfarbe ist der Geruch von gekochtem Weißkohl, das Gemälde an der Wand ist ein Foto, das Mirna und Kätzchen zeigt und den Titel Frauen und Katzen zuerst trägt. Hab ich was vergessen? Ja, der Mann, der verloren im Zimmer steht, ist in der Tat der Gerichtsvollzieher, er heißt allerdings Herbert Brünnchen und ist durch den Lichtschalter hereingekommen, bei dem es sich um die Durchreiche zur Küche handelt.

      Das Wohnzimmer selbst, um auch das noch zu erwähnen, scheint zwar ein umbauter Raum zu sein, ist aber in Wahrheit ein Zeitungsartikel mit der reißerischen Schlagzeile ›Ganz Schwabingen trichinenverseucht?‹

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       24.11.2011

      Ich betrete den Korridor. Meine alten Gelenke schmerzen, aber ich lasse nicht darin nach, meinen täglichen Kontrollgang zu machen, durch den geheimen Korridor tief hinein in den Olymp, in dem sich eine verborgene Gewölbehalle befindet. Hier liegen, im siebentausendjährigen Schlaf, Elfen, Zwerge, Drachen, Wichtel, Trolle, Einhörner, der Vogel Rok, Zyklopen, Zentauren, Dschinns und Schutzengel. Sie warten hier die Herrschaft der Menschen ab, ungeschlachter, tumber, schwerfälliger Gestalten, die an der Oberfläche der Erde Unordnung machen und Unfrieden stiften.

      Manchmal schlägt eines der Alten Wesen die Augen auf und glaubt, schwer zu träumen. Ich setze mich dann dazu und singe eines der alten Wiegenlieder. Nicht mehr lange, und die Zeit der Menschen wird zu Ende gehen. Wenn sie fort sind und die rechtmäßigen Hüter der Erde sich den langen Schlaf aus den Augen gerieben haben, wird mein neuntes Leben sich endlich dem Ende zuneigen, und ich werde ein letztes Mal mit schmerzenden Pfoten durch den Korridor laufen, ihnen voran, um ihnen den versteckten Ausgang zu zeigen, von dem aus sie vom Olymp herabsteigen können.

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       25.11.2011

      Ich betrete den K… Wer war das?! Wer hat einen Eimer Wasser auf die angelehnte Tür gestellt? Wer wagt es, sich mit mir, dem Ungetüm, einen albernen Scherz wie diesen zu erlauben? Ich schüttle meine strähnige Mähne und brülle, dass es in den Gängen meines Palasts lange widerhallt. Ich finde euch! Niemand kennt das Labyrinth besser als ich, der Menschenfresser.

      [Weitere Variationen des Minotaurus-Mythos finden Sie im E-Book Korridorium – Mythenwege, Märchenpfade.

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