In einer Stunde tot. J.P. Conrad

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In einer Stunde tot - J.P. Conrad

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nur noch ein nacktes, blutiges und mit anhaftenden Fleischfetzen verklebtes Skelett waren. Es stank nach verfaultem Fleisch; so stark, dass ich neuerlich fürchtete, zu ersticken. Seine Hand, die mein Gesicht im festen Griff gehalten hatte, verwandelte sich in blutige Knochen und ließ dann von mir ab.

      Ich spürte, wie sich meine körperliche Starre löste. Ich sprang sofort auf, wollte nur noch fort rennen. Aber aus irgendeinem Grund blieb ich nach nur wenigen Schritten unversehens stehen und drehte mich, schwer atmend um. Von Mister Judd war nichts wirklich vertrautes, menschliches, mehr übrig: Er war zu einem buchstäblichen Knochengerüst verkommen. Vor Entsetzen erstarrt, legte ich die Hände vor den Mund, als ich sah, dass dieses Etwas aber keineswegs leblos war: Die letzten Reste an Stoff der Pyjamahose fielen zu Boden, als es sich erhob und auf mich zu wankte.

      »Der Teufel hat seinen Spaß mit mir gehabt«, drang eine dumpfe Stimme aus dem geöffneten Rachen des leeren Schädels. Sie klang, als wäre ich unter Wasser und würde sie an der Oberfläche mit mir sprechen hören.

      »Und jetzt wird er ihn mit dir haben, Cara!«

      Es trat langsam und mit wankenden Schritten auf mich zu. Ich wich zurück, stieß gegen die steinerne Wegbegrenzung, taumelte und fiel. Ich landete rückwärts auf dem Rasen, mein Kopf schlug auf dem aufgeweichten Boden auf. Meine Augen wurden schwer und ich schloss sie für ein paar Sekunden. Ich hoffte auf eine Ohnmacht, die mich von all dem, was gerade passierte, entfernen würde. Aber sie blieb aus; es gab keine Gnade für mich. Ich hatte sie wohl auch nicht verdient.

      Als ich meine Augen wieder öffnete, blickte ich direkt in zwei gleißend helle Lichter in einer ansonsten vollkommen dunklen Umgebung. Als sie begannen, sich zu bewegen, erkannte ich, dass es zwei dämonische Augen waren, die mich anstarrten. Ein faulig riechender Atem stieg mir in die Nase. Ich spürte zwei Hände, die äußerst schmerzhaft meine Beine umfassten; nein, es schienen Klauen zu sein! Sie bohrten sich durch meine Hose in mein Fleisch. Für den Bruchteil einer Sekunde passierte nichts mehr. Ich hörte nur mein eigenes, keuchendes Atmen.

      Dann wurde ich mit einem Ruck vom Fleck gerissen. Ich schleuderte herum, klatschte mit dem Bauch auf den Boden. Jemand oder etwas zog mich über den Rasen, mit großer Kraft und Schnelligkeit. Panisch streckte ich meine Arme aus, versuchte mit den Händen im Boden Halt zu finden. Doch er war aufgeweicht und gab sofort nach. Meine Tasche schleuderte davon. Ich öffnete meinen Mund, wollte laut schreien, vor Panik und Schmerz. Doch ich blieb stumm. Kein Ton drang aus meiner Kehle. Ich war mit meiner ganzen Angst wehrlos in meinem eigenen Körper gefangen.

      Immer weiter wurde ich über den Boden geschleift. Es war, als ob ein wildes Tier mich als seine Beute gepackt hätte und nun davon galoppierte. Gras, Büsche und andere niedrig stehenden Pflanzen klatschten durch mein Gesicht und rissen schmerzhafte Wunden hinein. Ich hatte jetzt nur noch die eine Gewissheit: Ich würde sterben; jetzt und hier. Vor Angst. Und ich sehnte mich tatsächlich nach dieser Erlösung!

      Mit einem Mal ließ das Etwas von mir ab. Ich klatschte wie ein lebloser Sack auf das Gras. Es dauerte sicher ein paar Minuten, bis ich wieder wagte, meinen Kopf zu heben. Und ich bereute es sofort: Ich war jetzt am Teich, der sich im südwestlichen Teil des Parks befand. Im Schein der Lichter, die seine Oberfläche von der anderen Seite des Ufers aus erleuchteten, sah ich, dass sich das Wasser rot verfärbt hatte. Und es dampfte. Weiße Schwaden stiegen auf, als ob der Teich kochen würde. Die Köpfe dunkler Kreaturen durchbrachen langsam die Wasseroberfläche. Erst nur wenige, dann immer mehr. Dutzende. Hunderte. Die Gestalten erhoben sich träge aus dem Wasser. Ihre schwarzen Schatten hatten die Umrisse von Menschen, aber es konnten keine Menschen sein; nicht mehr das, wusste ich. Zerfetzte Kleidung hing an ihren dürren, abgemagerten Körpern und das Blut tropfte von ihnen, als sie mit merkwürdigen Verrenkungen aus dem Wasser ans Ufer kletterten. Sie bewegten sich genau in meine Richtung. Es waren so viele... Waren es wirklich so viele gewesen, in den fünfzehn Jahren?

      Ich wollte fliehen, konnte es aber nicht. Meine mit tiefen, blutenden Striemen übersäten Beine versagten mir den Dienst; sie bewegten sich keinen Millimeter mehr von der Stelle. Ich trommelte mit den Fäusten auf sie ein, als ob ich sie damit hätte aufwecken wollen. Aber ich spürte meine Schläge gar nicht erst auf ihnen. Doch das war nun sowieso egal: Die Kreaturen, die ich jetzt als die verwesten Überreste menschlichen Lebens erkannte, kamen immer näher. Ich schloss die Augen.

      »Gleich ist es vorbei, Cara. Dann wird alles gut!«, versuchte ich mir einzureden. In derselben Sekunde wurde ich schon von der ersten Kreatur gepackt. Sie röchelte, geiferte und ich hörte jede schabende und knackende Bewegung ihrer Knochen, als sie begann, an mir zu zerren. Immer mehr kamen dazu und taten es ihr gleich. Ich spürte sie nicht, aber ich nahm sie deutlich wahr. Als ich meine Augen öffnete, sah ich, was sie mit mir anstellten: Die Kreaturen zogen an meinen Beinen, sie rissen daran, verdrehten sie, bissen in sie hinein. Ich musste hilflos dabei zusehen, wie sie mir meine unteren Extremitäten vollständig ausrissen und wie tollwütige Tiere darüber herfielen. Sie gruben ihre Mäuler wie von Sinnen hinein, rissen Fleischfetzen heraus und verzehrten sie schmatzend.

      »Das alles muss doch ein Ende haben!«, flehte ich stumm. Doch weder ließen sie von mir ab, noch taten sie etwas anderes, als meine Beine aufzufressen. Aus irgendeinem Grund verschonten sie den Rest von mir, so dass ich gezwungen war, alles mitzuerleben.

      Dann, nachdem sie auch den letzten Rest von meinen Beinen verschlungen hatten, zogen sich die Kreaturen langsam wieder zurück. Wie eine Schwarmintelligenz liefen sie rückwärts wieder in den Teich, aus dem sie empor gestiegen waren. Irgendwann war keine von ihnen mehr zu sehen. Das Blut färbte sich wieder zu Wasser und die Dampfschwaden verschwanden. Erst jetzt konnte ich die Augen schließen.

      IV.

      Als ich aufwachte, erkannte ich mir vertraute Strukturen. Ein schmales, helles Licht, Knöpfe und Kabel. Aber aus dieser Perspektive hatte ich sie noch nie gesehen, was mich beunruhigte. Ich wusste sofort, wo ich war und von dieser Erkenntnis gepackt, versuchte ich, mich aufzusetzen. Aber es gelang mir nicht. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch den Schädel.

      Dann hörte ich wieder meinen Namen.

      »Cara!«

      Diesmal klang die Stimme ganz nah und sehr sanft. Und ich erkannte sie.

      Jemand beugte sich über mich. Nachdem sich mein verschwommener Blick fokussiert hatte, sah ich in das unsicher lächelnde Gesicht von David.

      »Was… ist passiert?«, fragte ich und spürte, wie unglaublich heiser und fragil meine Stimme klang. Mein Mund fühlte sich extrem trocken an und ich spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

      »Du bist endlich wieder bei uns!«, erklärte David, in dessen Stimme ich Erleichterung und auch eine gewisse Unsicherheit spüren konnte. »Ich konnte es kaum glauben, als sie mich anriefen! Woran erinnerst du dich?«

      Ich überlegte, soweit mir das in meinem offensichtlich recht desolaten Zustand möglich war. Kleine Erinnerungsfetzten, wie die Bruchstücke eines langsam verblassenden Traums, blitzten vor meinem geistigen Auge auf. Da war ein Kürbis, leuchtend orange und mit einer lachenden Fratze. Halloween. Ja genau, es war ja Halloween! Ich hatte meine Arbeit beendet und war mit David verabredet…

       »Also, was hast du mit mir vor?«, fragte ich gut gelaunt, als wir über den Personalausgang in den Hof traten. »Schlepp mich bloß nicht auf eine Halloween-Party!«

       Er lachte. »Keine Angst, sicher nicht!«

       Ich freute mich wie ein kleines Kind auf den bevorstehenden, gemeinsamen Abend. Es war unsere dritte Verabredung und alle Zeichen standen auf Sex, das spürte

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