In einer Stunde tot. J.P. Conrad
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Читать онлайн книгу In einer Stunde tot - J.P. Conrad страница 5
»Nur geliehen. Meiner ist in der Werkstatt«, erklärte David, schloss die Tür und stieg dann auf der Fahrerseite ein. »Der hier gehört meiner Schwester.«
»Du hast eine Schwester?«, fragte ich erstaunt. Ich kannte ihn bisher doch noch recht wenig, wie ich feststellte.
»Ja, sogar zwei.« David hob seinen Hintern an und zog seine Geldbörse aus der Gesäßtasche. Er klappte sie auf und zeigte mir ein Foto. Darauf waren er und eine blonde Frau mit Ponyfrisur, Zungenpiercing und Flashtunneln zu sehen, die ihre Arme und die Schultern des jeweils anderen gelegt hatten. Zu ihren Füßen saß ein kleiner Mops.
»Das ist Emily. Ich sehe sie leider im Moment nicht so oft. Sie macht ein Praktikum bei Guinness in Dublin. Aber jetzt ist sie hier, um mit ihrem Freund und ein paar Kumpels Halloween zu feiern.« Er steckte die Geldbörse wieder ein und dann den Schlüssel ins Zündschloss. Aber er drehte ihn nicht um. Stattdessen sah er mich an und lächelte. Ich lächelte zurück. Und dann passierte es: Wir küssten uns. Nur kurz und auch nicht sehr intensiv. Aber die Saat für mehr war gesät. Wir sagten erst einmal nichts und David startete den Wagen.
Wir hatten die Ausfahrt noch nicht verlassen, als ich in meiner Handtasche nach meinem Lippenstift kramte. Als ich mich dabei etwas von David abwandte, spürte ich mit einem Mal seinen wohlig warmen Atem an meinem Hals. Dann folgte ein zärtlicher Kuss in meinen Nacken. Ich schloss die Augen und lächelte.
V.
»Ich war schuld«, sagte David heiser und sah verschämt weg. »Ich hatte den verdammten Fischlaster nicht gesehen. Er war aber auch viel zu schnell unterwegs gewesen.«
»Was…?«, setzte ich zu einer Frage an. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, was nach Davids Kuss in meinen Nacken passiert war.
»Er hat den Kleinbus mit voller Wucht erwischt. Mir ist nichts weiter passiert, außer einer gebrochenen Rippe. Aber du…« Er schluckte. »Du lagst im Koma.«
Ich starrte gedankenversunken zur Decke. Mir war, als würde sich gerade ein tiefes Loch auftun, in das ich hinein fiel. Dann hörte ich, wie sich eine Tür öffnete und kurz eine mir vertraute Geräuschkulisse an mein Ohr drang; die eines geschäftigen Krankenhausflurs. Jemand hatte das Zimmer betreten.
»So, Mister Perkins, das reicht jetzt. Nicht länger als drei Minuten, hatten wir gesagt!«, hörte ich Schwester Gwen sagen, die ich gut kannte. Wir hatten schon unzählige Nachtschichten zusammen Dienst geschoben.
Sie beugte sich über mich und sah mich mit ernster Miene an.
»Sie braucht jetzt Ruhe! Das war ein erster Schritt, aber der Arzt hat gesagt, Sie sollen es langsam mit ihr angehen.«
Ich erkannte gerade noch aus den Augenwinkeln den kleinen Anstecker, den Gwen über ihrem Namensschild trug. Er hatte die Form eines Kürbisses und er blinkte. Ja, natürlich, es war ja Halloween!
Ich räusperte mich und spürte die Trockenheit in meiner Kehle. »Wie lange war ich bewusstlos?«
Es konnten ja zum Glück höchstens ein paar Stunden gewesen sein. Ich erkannte, wie David und Gwen einen stummen, ernsten Blick wechselten. Dann sagte David:
»Ein ganzes Jahr.«
Die Erkenntnis traf mich nicht sofort; erst nach ein paar Sekunden hatte ich die Bedeutung dieser drei kleinen Worte wirklich erfasst. Mir wurde sofort schwindelig und wenn ich nicht schon gelegen hätte, hätten mir meine Beine sicher ihren Dienst versagt.
»Ein Jahr?«, fragte ich entsetzt und war erneut versucht, aufzuspringen. Schwester Gwen hielt mich zurück, drückte mich wieder sanft auf das Kissen.
»Bleiben Sie ruhig, Cara! Sie müssen sich jetzt noch eine lange Zeit schonen.«
Genau das war es, was ich nicht wollte! Auch wenn ich mich gerade absolut beschissen fühlte, hatte ich einen ungeheuren, panischen Wissensdurst. Noch einmal versuchte ich, mich aufzurichten.
»Cara, bitte!«, bekniete mich David. »Du musst liegen bleiben!«
»Aber ich will aufstehen! Ich muss!«, schmetterte ich ihm mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung entgegen. Ich konnte die Flut an Gedanken in meinem Kopf zwar nicht klar ordnen, aber eines wusste ich: Ich wollte auf jeden Fall hier raus. Ich wollte die Welt sehen, die sich ohne mich dreihundertfünfundsechzig Tage lang weiter gedreht hatte.
»Aber du kannst nicht, Cara!«, erwiderte David. Und an Gwen gewandt sagte er: »Erklären Sie es ihr!«
Die Schwester sah ihn mit finsterem Blick an. »Es ist noch viel zu früh dafür!«
David deutete in meine Richtung. »Sie ist wach! Ein Jahr habe ich darauf gewartet, war hier und habe mit ihr geredet. Und jetzt ist sie wach! Sie ist voll da, sehen sie das nicht? Sie muss es wissen!«
»Was muss ich wissen?«, fragte ich leise und war mir nicht sicher, ob ich die Antwort wirklich hören wollte.
Gwen trat an mich heran und legte mir ihre Hand auf die Schulter. »Bei dem Unfall wurden Ihre Beine in Mitleidenschaft gezogen. Wir mussten Sie operieren, Cara.«
Mein Herz setzte für einen Schlag aus. Ich sah Gwen mit verständnislosem Blick an. Dann drehte ich, wie in Zeitlupe, meinen Kopf nach vorn, schaute auf die Decke, die meinen Körper verhüllte.
Mit zitternden Händen hob ich sie an und sah darunter. Da war meine Brust, da war mein Bauch und mein Becken. Aber da waren keine Beine mehr.
Ich atmete tief durch. »Danke Mister Judd, ich habe verstanden!«, flüsterte ich leise und sank wieder auf das Kissen zurück, während eine einzelne Träne über meine Wange lief.
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