Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner

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Metastasen eines Verbrechens - Christoph Wagner Heidelbergkrimi

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Prognose. Es kann sein, dass sie völlig zusammenbricht. Es ist aber auch gut möglich, dass sie den Mörder schnell gefasst sehen will und sofort mit Ihnen sprechen möchte. Wir müssen einfach abwarten. Ich werde mich dann umgehend bei Ihnen melden.“

      „Damit muss ich leben. Rufen Sie mich bitte noch heute Abend im Büro an. Hier meine Karte.“

      Travniczek verabschiedete sich und verließ langsam das Michaelistift. Was für eine Tragödie, dachte er. Warum ist das Schicksal so ungerecht, eine Frau, die so Furchtbares mitgemacht hat, jetzt noch einmal so zu schlagen?

      Wut stieg in ihm hoch. Er wollte umkehren und sofort diesen Fritjof Fries in die Mangel nehmen. Er musste sich zwingen, diesem Impuls nicht nachzugeben. Denn wenn er ihn jetzt verhören würde und dabei nichts herauskäme, wäre Fries vorgewarnt und könnte eventuelle Spuren problemlos verwischen. Natürlich mussten sie erst dessen Umfeld genau abklären.

      Er bestieg sein Dienstfahrzeug, setzte das Blaulicht, schaltete das Martinshorn ein und raste zurück zur Polizeidirektion. Da keine akute Gefahr bestand, durfte er das eigentlich nicht. Aber das war ihm jetzt egal. In der Direktion lief er in den ersten Stock und steuerte dort, ohne ins Büro zu sehen, dem Ende des Ganges zu, wo in einer kleinen Rumpelkammer sein elektronisches Klavier stand. Er schloss hinter sich ab und griff ohne zu überlegen nach Bachs Chromatischer Fantasie und Fuge. Nur das konnte ihm jetzt wieder die nötige Klarheit verschaffen. Schon nach wenigen Takten der virtuosen Anfangspassagen löste sich seine innere Spannung. Und als die letzten Töne der grandiosen Fuge verklungen waren, hielt er einen Moment inne, schloss das Klavier und begab sich mit kraftvollem Schritt in sein Büro. Sein Kopf war wieder frei. Die Arbeit konnte weitergehen.

      Außer ihm war niemand mehr da. Aber auf seinem Schreibtisch fand er eine Nachricht von Melissa Siebert: Herbert Pflaumer hatte in den letzten Tagen mehrfach Telefonkontakt mit Graf Baldur von Blauwitz.

      Was war davon zu halten?

      Travniczek versuchte, die bisherigen Erkenntnisse irgendwie zusammenzusetzen:

      Fritjof Fries, nach Meinung von Lewandowski unter falschem Namen lebender gesuchter Kriegsverbrecher, stand im Kontakt mit Graf von Blauwitz. Der ist Mitglied der Deutschen Nationaldemokraten. (Perverser Name: Was ist an denen demokratisch?) Dessen Vater war ranghohes Mitglied der Waffen-SS gewesen. Das passte.

      Lewandowski wurde erschossen. Warum? Fries fürchtete offenbar, von ihm enttarnt zu werden. Reichte das für einen Mord?

      Fries konnte den Mord aber nicht selbst begangen haben. Pflaumer, unter dringendem Verdacht, den Mörder durch vorübergehendes Ausschalten der Videoüberwachung gedeckt zu haben, hatte Telefonkontakt zu dem Grafen. Der Graf hing also mit drin.

      Travniczek schob im Geiste die einzelnen Puzzleteile hin und her: Dem Grafen scheint eine wichtige Rolle zuzukommen. Ist er vielleicht gar das Zentrum des Ganzen? Was hat es mit diesen Versammlungen im Reiterhof auf sich? Was für Leute treffen sich da? Motorräder hat Lewandowski dort gesehen. Haben die Skins, die das Asylbewerberheim überfallen haben, auch mit dem Grafen zu tun? … Alles reine Spekulation! …

      Der Einbruch in Lewandowskis Büro, der Diebstahl der Festplatten – was soll das mit den Nazis zu tun haben? ... Das macht überhaupt keinen Sinn.

      Also dieser Architekt, Pranger!

      Aber Travniczek weigerte sich zu glauben, der Mord an Lewandowski könnte überhaupt nichts mit den Nazis zu tun haben. Warum eigentlich? Wollte er einfach, dass es die Nazis waren?

      Und diese Blattau? Hier musste er besonders aufpassen: Sie ist Schauspielerin. Also kann alles, was sie sagt und tut, reines Theater sein. Wenn sie ihr Handwerk beherrscht, wird es schwer, das zu durchschauen. Aber diese Hassausbrüche! Das war echt, da war er sicher. … Aber –

      Das Telefon unterbrach seinen Gedankengang. Eigentlich gut so, dachte er. Er wäre jetzt ohnehin nicht mehr weiter gekommen.

      Dr. Hager war am Apparat.

      „Wie lief es?“

      „Schlecht. Sie ist mir zusammengeklappt. Herzattacke, vielleicht sogar Infarkt. Wir haben sie sofort in die Klinik bringen müssen. Der Arzt sagt, wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Ihr Herz ist doch schon sehr schwach.“

      Nach dem Telefonat wollte Travniczek nur noch nach Hause. Vielleicht war ja Bernhard da. Er hatte in den letzten Wochen immer wieder gespürt, wie gut ihm die Gespräche mit seinem Sohn taten. Plötzlich kam ihm da wieder der Satz in den Sinn, mit dem Bernhard vor einigen Tagen den Ersten Weltkrieg charakterisiert hatte: Das ist doch alles einfach nur Wahnsinn!

      Mai 1935

      Im Pausenhof des Kurfürst-Friedrich-Gymnasiums, dem ältesten Gymnasium Heidelbergs, war direkt neben der Turnhalle ein Auflauf entstanden. Inmitten eines Pulks von Quartanern gab es offenbar eine Rauferei. Zwei Obertertianer im Braunhemd der HJ beobachteten das Geschehen aus einiger Entfernung.

      „Da wird wohl einer von mehreren verprügelt“, bemerkte Wernher, der für sein Alter schon sehr groß und auch kräftig war.

      „Na und, was geht’s uns an?“, sagte Gunther, flachsblond, Kraushaar mit Sommersprossen.

      „Du hast doch auch gelernt, es ist unsere nationale Pflicht, andere für die Bewegung zu gewinnen.“

      „Was hat das denn damit zu tun?“

      „Wir befreien das Opfer und stellen es unter unseren besonderen Schutz. Danach werben wir den Knaben an. Das klappt bestimmt.“

      „Und wenn‘s ein Jammerlappen ist? Oder gar ein Saujud?“

      Hier wurde ihr Gespräch unterbrochen. Dr. Hagen von Adelung, gefürchteter Lehrer für Latein und Griechisch, ging mit militärisch strammem Schritt auf die Quartanergruppe zu und riss die Gaffer mit energischen Griffen auseinander. In der Mitte des Kreises knieten zwei Jungen links und rechts neben einem Dritten und schlugen auf ihn ein. Dr. von Adelung packte beide am Kragen, zerrte sie nach oben und schnauzte sie an: „Zwei gegen einen ist feige!“

      „Aber er hat doch …“

      Eine schallende Ohrfeige unterbrach ihn.

      „Du widersprichst mir nicht, egal was ist! Niemals zwei gegen einen! Ein offener Boxkampf, das ist eines deutschen Jungen würdig. Aber nicht so etwas.“

      Die Schulglocke ertönte.

      „Auf denn, in den Unterricht! Aber du bekommst auch noch den Lohn für deine Feigheit.“

      Er packte den zweiten Schläger am Hemd und gab auch ihm eine schallende Ohrfeige. Dann wandte er sich von der Gruppe ab und strebte großen Schrittes in das Schulgebäude, ohne sich um den am Boden liegenden Jungen zu kümmern. Der blutete heftig aus der Nase.

      Die Gruppe hatte sich aufgelöst. Fritz Wiechmann setzte sich mühsam auf, griff nach seinem Taschentuch und versuchte, sich das Blut abzuwischen. Aber es kam immer noch welches nach.

      „Was hast du denen denn getan?“, hörte er da plötzlich eine Stimme neben sich. Er sah auf und schaute in das herausfordernd blickende Gesicht eines sehr viel älteren Schülers. Reflexartig hielt er seine Hände vors Gesicht und schrie weinerlich: „Nicht schlagen! Nicht schlagen!“

      „Warum sollte ich dich

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