Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner
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Hannah hätte Fritz gerne geholfen. Aber sie fühlte sich auch für die kleine Hedwig verantwortlich und konnte nicht eingreifen.
Da rief Emanuel von oben: „Guckt euch mal den Fritz an. Der ist auf einmal mutig geworden und will uns unsern Spaß verderben. Dem zeigen wir es aber!“
Die Kinder rannten nach unten, Emanuel vorne weg. Er riss Fritz um und hielt ihn rücklings am Boden liegend fest. Marianne formte mit beiden Händen einen großen Schneeball und seifte den hilflos Zappelnden ein. Dann steckte sie ihm auch noch Schnee hinten in den Nacken. Georg und Rachel warfen mit Schnee auf die ganze Gruppe. Aber Hannah schrie: „Ihr seid Feiglinge! Alle gegen einen! Ich hol jetzt die Mama!“
„Geh nur, alte Petze!“, gab Emanuel zurück und feixte. „Es ist aber niemand da! Die sind einkaufen gegangen!“
Und dann sah es Georg als Erster. Fritzens hellgraue Wollhose färbte sich im Schritt dunkel.
„Fritz hat in die Hose gemacht!“
Die anderen sahen erst ungläubig Georg an und dann auf Fritz. Das Malheur war nicht zu übersehen. Emanuel prustete los: „Fritz ist ein Hosenpisser! Fritz ist ein Hosenpisser!“ Die anderen, bis auf Hannah, fielen im Chor ein. Die kleine Hedwig jedoch fing an zu weinen. Sie merkte instinktiv, dass hier etwas nicht in Ordnung war.
Fritz war wie zu Eis erstarrt. Er schämte sich furchtbar. Warum passierte ihm das immer wieder, vor allem auch nachts, wenn er schlecht träumte? Und er träumte oft schlecht. Warum konnte er nicht einfach mit den anderen Kindern spielen? Warum war da immer dieses Etwas, das ihn festhielt?
Da ließ Hannah Hedwigs Hand los und ging, ohne die anderen eines Blickes zu würdigen, auf Fritz zu, der noch immer weinend auf dem Rücken lag. Sie sah ihn mit ihren großen dunklen Augen liebevoll an. Der Spottchor war ganz plötzlich verstummt. Fritzens Miene hellte sich auf. Hannah nahm ihn an den Händen und half ihm auf die Beine.
„Komm, wir gehen nach drinnen“, flüsterte sie.
Sie nahm ihn an der linken Hand und griff mit der anderen ein Händchen der kleinen Hedwig. Langsam gingen die drei den Hang hinauf. Die anderen sahen ihnen schweigend nach. Auf halbem Weg drehte sich Hannah noch einmal um und rief nach unten: „Merkt euch eins: Wer Fritz noch einmal etwas tut, bekommt es mit mir zu tun!“
„Da hab ich aber richtig Angst!“, rief Emanuel und lachte laut.
Mariannes Gesicht aber war ganz ernst geworden. Sie war als Einzige schon alt genug, um zu begreifen: Sie waren zu weit gegangen. Viel zu weit. Sie hätte es verhindern müssen.
Dienstag, 20. August 2013 (2)
Um vierzehn Uhr traf sich das Ermittlerteam mit Spusichef Breithaupt für eine erste Bestandsaufnahme zu dem Mord vom Vormittag. Travniczek wollte gerade beginnen, da platzte Breithaupt heraus: „Kollegen, eine Sekunde, aber das muss jetzt sein, ich hab gestern einen köstlichen neuen Witz gehört!“
Er ignorierte die abwehrende Handbewegung des Chefs und fuhr ohne Pause fort: „Ein großer Stift und ein kleiner Stift gehen spazieren. Sagt der große Stift zum kleinen Stift: Dann wachs mal, Stift!“
Wie üblich lachte er über seinen Witz am lautesten, lehnte sich zufrieden zurück, da es ihm diesmal gelungen war, Travniczek zu überrumpeln, sog lustvoll den Duft von Frau Sieberts unschlagbar köstlichem Kaffee ein und sah gierig nach dem Teller mit den Keksen, der aber noch außerhalb seiner Reichweite stand.
Dann begann Travniczek energisch: „Zuerst: Haben wir endlich etwas Brauchbares zum Überfall auf das Asylbewerberheim?“
„Nein, nichts“, erwiderte Brombach, „und das frustriert mich maßlos. Wahrscheinlich hat Grundmann recht. Es handelt sich um Neulinge, die möglicherweise sogar irgendwo von außerhalb kommen. Da haben wir schlechte Karten.“
„Da wird Wurlitzer aber jaulen“, meinte Travniczek. „Der steht mir auf den Füßen. Wir brauchen dringend Fahndungserfolge. Die BILLIG-Zeitung titelt: ‚AUF DEM RECHTEN AUGE BLIND! – So hätte der Überfall auf das Asylbewerberheim verhindert werden können.‘ Die haben herausgefunden, dass die Verkehrspolizei geschlafen hat.“
„Da haben wir den Salat. Außer Strafzettel schreiben können diese Flaschen doch nichts“, fauchte Brombach. „Wenn die von der BILLIG-Zeitung in die Pfanne gehauen werden, ist mir das grad recht.“
„Also, solange wir uns nichts vorzuwerfen haben“, meinte Travniczek beschwichtigend, „sehe ich das Geschreibe von diesen Schmierfinken einigermaßen gelassen. Deshalb zuerst zum Fall Lewandowski. Hier handelt es sich schließlich um Mord. Was wissen wir über das Opfer? Martina bitte!“
„Benjamin Lewandowski, geboren am 26. September 1953 in Heidelberg, also knapp sechzig Jahre alt, freischaffender Architekt, wohnte seit 1977 in der Friedrichstraße 12, also nur wenige Minuten vom Tatort entfernt. Dort hatte er auch sein Büro. Er war dort eingezogen, nachdem er geheiratet hatte, eine Renate, geborene Fahrenkopf. Er hat aus dieser Ehe zwei Kinder: Paul, 31 Jahre alt, lebt in Heilbronn, und Jasmin, 27. Sie ist unter dem Namen Güttler verheiratet und lebt in Dortmund. Die genauen Adressen haben wir noch nicht. Lewandowskis Frau ist vor drei Jahren verstorben. Mehr gibt es wohl noch nicht.“
„Gibt es weitere Angehörige? Zwei hat er uns ja selbst letzten Donnerstag genannt: seine Mutter und seine Schwiegermutter im Michaelistift. Gibt es noch andere Menschen, die ihm nahestanden, Verwandte, Freunde, Geschäftspartner?“, fragte Travniczek nach.
„Bis jetzt Fehlanzeige. Hoffentlich finden wir in der Wohnung irgendein Adressbuch.“
„Wichtig ist“, ergänzte Brombach, „Lewandowski war vergangenen Freitag bei uns und hat den Verdacht geäußert, ein gewisser Fritjof Fries, der in dem Seniorenheim Michaelistift wohnt, lebe dort unter falschem Namen und sei möglicherweise ein gesuchter Kriegsverbrecher.“
„Natürlich“, griff Travniczek ein. „Es ist sicher kein Zufall, dass der Mord und die Aussage Lewandowskis zeitlich zusammentreffen. Aber gerade deswegen: Wir dürfen nicht aufhören, in andere Richtungen zu ermitteln. Herr Breithaupt, wie war die Lage am Tatort?“
Der Spusichef hatte zwischenzeitlich den Teller mit den Keksen erreicht und antwortete mit vollem Mund:
„Zum Opfer: Lewandowski wurde aus nächster Nähe in den Hinterkopf geschossen. Wir haben ein 6,35mm-Projektil sichergestellt. Das könnte auf eine Walther PP als Tatwaffe hindeuten, die gängige Dienstwaffe der deutschen Offiziere im Zweiten Weltkrieg. Wenn sich das bestätigen lässt, wird das sicher ein guter Anhaltspunkt sein, wo man den Täter suchen muss. … Lewandowski saß bei der Tat auf einer Bank vor dem Riemenschneideraltar. Wir können davon ausgehen, dass er seinen Mörder überhaupt nicht gesehen hat. Weiter gibt es in Tatortnähe jede Menge Spuren: Kleiderfasern, Haare etc. Aber da dieser Raum natürlich sehr stark frequentiert wird, hat das meiste davon sicher nichts mit der Tat zu tun. Damit lässt sich sowieso erst etwas anfangen, wenn wir konkrete Tatverdächtige haben.“
„Sie waren doch auch schon in Wohnung und Büro von Lewandowski?“, fragte Travniczek ungeduldig nach.
„Nein, die Arbeiten im Museum waren zu umfangreich. Aber wir werden in Kürze dort weitermachen.“
„Dann