Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner
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„Die Dinge mit nüchterner mathematischer Logik anzusehen.“
Wieder sprachen sie längere Zeit kein Wort. Dann fing Hedwig wieder an: „Hast du dir eigentlich schon mal klar gemacht, dass Fritjof fast so alt ist, wie Fritz jetzt wäre, wenn er noch lebte? Ist das nicht merkwürdig?“
„Natürlich. Aber … lass Fritz ruhen. Ich habe mit ihm meinen endgültigen Frieden gemacht, als wir vor fünfzehn Jahren an seinem Grab in La Cambe1 standen. … Es gibt keine Anklage über den Tod hinaus. … Was immer er getan hat: Er bleibt der Einzige, den ich je wirklich geliebt habe.“
Hedwig wusste, dass sie jetzt nichts mehr sagen durfte, dass sie Hannah mit ihrem Schmerz und ihren Erinnerungen allein lassen musste.
Sie stand geräuschlos auf, ging in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Betrieb. Als sie mit der dampfenden Kanne zurückkam, saß Hannah noch genauso da, wie sie sie verlassen hatte. Hedwig stellte Tassen auf den Tisch und zündete eine Kerze an.
„Komm, lass uns einen richtig guten Kaffee trinken. Soll ich eine Musik auflegen?“
Hannah schüttelte heftig den Kopf, als müsste sie etwas abwerfen.
„Was hast du gerade gesagt? Ich war ganz woanders.“
„Willst du Musik hören?“
„Vielleicht später. … Wir müssen uns erst klarwerden, wie wir mit Fritjof weiter umgehen. Ich kann nicht einfach so tun, als ob nichts geschehen wäre.“
„Natürlich, Liebes. … Was sollen wir also deiner Ansicht nach machen? … Wie können wir die Wahrheit herausfinden? … Wenn er wirklich etwas zu verbergen hat, wird er es uns nicht einfach sagen.“
„Weißt du was? Ich rufe Benni an, und zwar jetzt gleich. Vielleicht kann er uns weiterhelfen.“
1 Nahe der Gemeinde La Cambe in der Normandie liegt eine der zentralen Begräbnisstätten von im Zweiten Weltkrieg in Frankreich gefallenen deutschen Soldaten.
Dienstag, 20. August 2013
Zurzeit war sein Stress besonders groß. Bereits am kommenden Samstag musste er seinen Entwurf für den Neubau einer großen Industrieanlage in Frankfurt präsentieren. Auftraggeber war die Firma DRAGO, ein weltweit operierender Anlagenbauer. Wenn er den Zuschlag bekäme, würde er dadurch gewissermaßen in die Bundesliga seiner Zunft als Architekt aufsteigen. Er könnte mit vielen lukrativen Anschlussaufträgen rechnen, mit anderen Worten: Es wäre ein Quantensprung in seiner Karriere.
Aber vielleicht war dieses Projekt für eine Einzelperson doch eine Nummer zu groß. Es gab noch unendlich viel zu tun, und langsam geriet er in Panik. Er wusste, dass sich auch renommierte Kollegen bewerben würden. Aber er wollte unbedingt gewinnen. Ohne Rücksicht auf seine Gesundheit hatte er schon mehrere Nächte hintereinander durchgearbeitet und dabei literweise Kaffee in sich hinein geschüttet. Aber dann ging es einfach nicht mehr. Die Bilder auf dem Monitor begannen plötzlich wild zu tanzen. Aber er wusste sich zu helfen. Schräg gegenüber von seinem Büro in der Friedrichstraße lag das Kurpfälzische Museum*. Schon seit Jahren hatte er dort immer wieder Entspannung gesucht, wenn ihn seine Kraft verließ.
Er pflegte sich dann für eine Stunde oder zwei vor eins seiner Lieblingsbilder zu setzen, etwa das Gemälde eines unbekannten Künstlers vom Hofnarren Perkeo mit einem Mandrill1 oder auch das Porträt eines unbekannten älteren Mannes, in dem er sein Spiegelbild sah, obwohl er gar keine äußere Ähnlichkeit mit ihm hatte. Sehr faszinierten ihn auch die Bilder zweier italienischer Künstler von der grandiosen Architektur Venedigs im hellen Licht der mediterranen Sonne. Im Saal der Kunst des Zwanzigsten Jahrhunderts waren es die Bilder von Carl Hofer2, die Ruhenden Mädchen, deren vollkommene Entspannung immer ansteckend auf ihn wirkte, und die Obststillleben aus den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, in denen er tief verborgen die zunehmend bedrückende Atmosphäre ihrer Entstehungszeit zu erkennen glaubte.
Jedes Detail dieser unvergleichlichen Kunstwerke versuchte er in sich aufzunehmen, die vollendete Harmonie seiner Proportionen zu erfassen, um dann schließlich nichts mehr zu bewerten, zu erkennen, zu bewundern, zu verstehen, sondern einfach nur noch zu schauen. Danach fühlte er seinen Geist so gereinigt, dass er wieder gestärkt an seine Arbeit zurückkehren konnte.
Wenn er besonders erschöpft war, setzte er sich vor das Prunkstück des Museums, den von Tilman Riemenschneider3 geschnitzten Zwölfbotenaltar4.
Dort saß er auch an diesem Dienstag. Er ließ seine Augen, wie schon so oft, über die Gesichter der verschiedenen Figuren schweifen, und wieder gelang es ihm nicht, deren Ausdruck auch nur annähernd in Worte zu fassen. Sie sprachen allein durch ihre Bildkraft zu ihm, und je länger er schaute, umso lebendiger wurden sie für ihn. Es war ihm, als träte er mit ihnen in einen wortlosen Dialog.
Schon lange saß er hier. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ganz weit weg waren die Pläne für die Industrieanlage. Er befand sich in einer Art Zwiegespräch mit der Figur des Petrus: Wie fühlst du dich, direkt neben dem Herrn, fragte er ihn. Und Petrus antwortete ihm:
Ja, ich stehe neben dem Herrn … ich bin eingebunden in das Kollegium der Jünger … aber dennoch fühle ich mich einsam … wage nicht zum Herrn aufzuschauen … will nicht mit dem Blick einem der Brüder begegnen … da ist die Sehnsucht nach etwas Fernem … etwas das tief unter mir liegt … der Himmelsschlüssel in der Hand macht mir Angst … ich habe nicht den Mut, ihn richtig festzuhalten … er droht mir zu entgleiten … ja, ich bewundere den Herrn … aber dennoch habe ich kein Vertrauen in die Zukunft … es wird alles zuschanden werden … der Traum einer besseren Welt wird sich nicht erfüllen …
Da betrat jemand den Raum und blieb hinter ihm stehen. Aber die Petrusfigur hielt ihn so gefangen, dass er es nicht merkte. Er hörte ganz kurz ein pfeifendes Geräusch, spürte noch einen Stich im Hinterkopf und die Gesichter des Altars verschwammen im Nichts.
*
„Wie geht es der Syrerin?“, fragte Hauptkommissar Travniczek in die Runde, als sie in ihrem Büro zur Morgenbesprechung zusammengekommen waren.
„Soweit ich weiß“, begann Melissa Siebert, „liegt sie weiter im Koma. Die Ärzte meinen, man kann nur hoffen. Aber – sie haben fremde DNA-Spuren an ihrem Körper gefunden. Die sind auf dem Weg hierher. Vielleicht gehören die ja zu jemandem, den wir kennen.“
„Schön wär‘s“, entgegnete Travniczek skeptisch, aber auch verärgert. „Ich bin allerdings wenig optimistisch. Breithaupt hat ja auch nichts Brauchbares gefunden. Grundmann meint, wahrscheinlich mussten da irgendwelche Neulinge eine Mutprobe ablegen. Die sind natürlich noch nirgends registriert. Wenn die Verkehrspolizei besser reagiert hätte, ständen wir jetzt anders da.“
„Aber wenigstens wird das Heim jetzt videoüberwacht“, meinte Brombach. „Da wird sich so etwas wohl nicht wiederholen.“
„Immerhin etwas. Aber – habt ihr wenigstens was zu diesem Lewandowski herausgefunden?“, fragte der Chef ungeduldig.
„Ich