DAS GESCHENK. Michael Stuhr
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„Okay, nun die nächste Frage.“ Der Ton des Moderators wirkt herausfordernd, so als wolle er uns aufs Glatteis führen: „Also“, beginnt er umständlich und sortiert seine Zettel, „Hier die nächste Frage.“
Nun mach mal hin Alter, Lana will’s wissen! Weiter bitte.
„Mit welchen Worten beginnt die französische National ...“ Wieder bin ich schneller: „Allons enfants de la Patrie, le jour de gloire est arrivé!“ intoniere ich mit zitternder Stimme und bemerke zu meiner Verblüffung, dass über die Hälfte des Publikums sich erhebt, in meinen Gesang einfällt und die Strophe zu Ende singt. Beifall brandet auf.
„Zweiter Punkt für Lana“, ruft der Moderator mit übertriebener Betonung auf meinem Namen laut und der Gesang aus dem Publikum verebbt. Alle schauen gespannt auf die Bühne.
„Nun solltet ihr die Frage wirklich aufmerksam bis zu Ende anhören, rate ich euch!“ Mir einem kleinen Seitenblick streift er mich und ich fühle mich verpflichtet zu nicken. Gleichzeitig wandert mein Blick irritiert über die Zuschauer zu einer der Pinien rechts von der Bühne. Ich dachte, nein eigentlich war ich mir sicher, ich hätte Diego dort gesehen. Aber da ist niemand.
„Also“, fängt der Moderator an, „3 Katzen fressen 3 Mäuse in 3 Minuten. 100 Katzen fressen 100 Mäuse in wie vielen Minuten?“
Ich suche mit meinen Blicken immer noch das Publikum nach Diego ab, sehe aber stattdessen nur Alains breites Grinsen vor mir am Bühnenrand. Felix antwortet: „Wenn der Katze drei Minuten für Maus braucht, hundert Katzen wohl drei Minuten für hundert Maus braucht, oder sie fressen nacheinander? Nein! Also: drei Minuten genauso“, während ich noch dabei bin, die Frage zu sortieren, da ich nur mit halbem Ohr hingehört habe.
„Super! Das ist ein Punkt für Felicitas!“ brüllt der Moderator in das freundliche Gelächter des Publikums hinein, während Felix das Gesicht verzieht. „Warum habe ich dumb dora nicht Felix in der Zettel geschrieben?“ murmelt sie mir verzweifelt zu. Schon kommt die nächste Frage. Dieses Mal zwinge ich mich, aufmerksam zuzuhören.
„Wie viele Tiere von jedem Geschlecht nahm Moses mit auf die Arche?“ Der Moderator grinst uns triumphierend an. Allerdings fällt seine Miene in Sekundenschnelle in ein einziges Staunen zusammen, als wir beide wie aus einem Mund antworten: „Moses hatte keine Arche, also keine Tiere!“ Felix drückt es zwar ein wenig anders aus, aber es ist eindeutig dieselbe Antwort in derselben Sekunde.
Der Moderator fängt sich schnell, es ist ja schließlich sein Job. Er ruft ins Publikum „Das ist richtig! Aber jetzt müssen diese beiden wirklich intelligenten Ladies noch eine richtig kniffelige Frage beantworten. Passen Sie auf: Teile 30 durch 1/2 und addiere 10. Was ist die Lösung?“ Verschmitzt grinst er uns an.
Nach kurzem Überlegen antworten wir beide wieder fast gleichzeitig. Felix ruft „70“, während ich „25“ rufe.
Felix und ich schauen uns an „Wieso 70?“ brummele ich, während sie flüstert: „Wie machst du die 25 bitte?“
Der Moderator freut sich. Laut verkündet er: „70 ist natürlich richtig!“ Ich sehe, wie Alain sich unten vor der Bühne aufstöhnend die Hand vor die Stirn klatscht und mache in Gedanken dasselbe. Na, ja, Bruchrechnen war noch nie meine Stärke. Pascal grinst mich offen an. Es wirkt ziemlich spöttisch, geradezu gehässig.
„Jeweils zweieinhalb Punkte für Lana und Felicitas, meine Damen und Herren. Einen Abschlussapplaus für diese beiden nicht nur hübschen, sondern auch wirklich intelligenten Mädchen!“ ruft der Moderator, so als wolle er uns meistbietend versteigern.
Willig spendet uns das Publikum Applaus. Ich traue meinen Augen nicht, denn ich sehe meinen Vater doch tatsächlich aufstehen und durch die Finger pfeifen! Meine Mutter klatscht wie eine Wilde und selbst Didier ist hin und weg, so wie er strahlt und klatscht. Wir verbeugen uns und gehen hinter den Vorhang.
„Puh!“ meint Felix, „das haben wir gut gemacht, haben wir?“ Sie grinst mich an.
„Haben wir!“ bestätige ich und denke schon mit Grausen an die letzte Aufgabe. Tanzen – Blitzchoreografie - oh Mann!
Pauline kommt angelaufen und flüstert aufgeregt: „Ihr wart klasse! Was der für ein dummes Gesicht gemacht hat.“ Ohne Luft zu holen fährt sie fort: „Aber nun muss ich euer Make Up auffrischen, setzt euch mal hierher und haltet eure Haare nach hinten. Ihr seht ja ganz verschwitzt aus, da muss ein bisschen Puder her.“ Japsend wendet sie sich dem Schminkkoffer zu.
„Du darfst den Luft nicht vergessen!“ Felix legt Pauline eine Hand auf die Schultern und wiederholt gespielt besorgt „An den Luft denken, verstehst du?“
Pauline schaut sie mit großen Augen verdutzt an. „Die Luft?“ Schließlich lacht sie. „Ach so. Ja, ja, klar! Wir setzen uns einfach zum Ventilator, dann werden eure Gesichter schon trocken.“
„Ich glaube, Felix meint, dass du zwischendrin mal einatmen solltest“, erkläre ich, während sie uns an den Händen zum Ventilator zieht.
„Das kann ich nachher immer noch“, erwidert Pauline bestimmt, „jetzt müssen wir erst Mal sehen, dass ihr gewinnt.“ Sie dreht sich zu uns um und grinst verschmitzt. „Sonst komme ich doch nie ins Les Sables.“
„Wie jetzt?“ Felix und ich bleiben stehen.
„Ja, ja ich darf mit!“ Aufgeregt zerrt uns Pauline vor den Ventilator. „Meine Mutter hat’s erlaubt. Ich konnte sie überzeugen, dass es wichtig ist, dass jemand dabei ist, der euch schminkt und eure Haare frisiert. Stellt euch vor, sie leiht uns sogar ihre Haarnadeln und Frisierzeug. Weil - ihr müsst doch dort Abendkleider vorführen und da muss man doch die Haare hochstecken, und so.“ Atemlos hält sie inne und schaut uns strahlend an. „Ist das nicht geil? Allerdings nur bis zum Ende der Wahl, dann holt mein Vater mich ab“, setzt sie noch betrübt hinzu. „Aber besser als nichts, oder?“ fährt sie fort, während sie anfängt, unsere Gesichter abzupudern und den Lidstrich nachzuziehen.
„Das ist ja super!“, erwidere ich lahm, denn mir ist von Paulines Wortschwall nur eines im Kopf hängen geblieben und kreist dort, wie ein einsamer Planet um eine erlöschende Sonne: Abendkleid! Ich und ein Abendkleid! Ein dürrer, langer Storch im Abendkleid! Und vor allem: dazu braucht man wirklich Schuhe. Da kann man nicht barfuß laufen.
In Gedanken gehe ich meine Schuhe durch, die sich im Kofferraum unseres Autos befinden: Leinenturnschuhe, Flip-Flops, Sandalen und ein paar Ballerinas, also nichts, was wirklich passt. Schließlich katapultiere ich mich wieder in die Wirklichkeit zurück: Hallo, Lana Chérie, wieso denkst du denn, dass du gewinnen könntest?
Eine sanfte Stimme flüstert in mir: Weil du schön bist. Diese Stimme ist so nah, so wirklich, dass ich mich unwillkürlich umdrehe.
„Lana!“ schnauzt Pauline mich an, „Kannst du deinen Kopf nicht still halten, jetzt hast du deinen Lidstrich versaut!“
„Sorry“, murmele ich und versuche, ruhig sitzen zu bleiben.
Endlich hat Pauline uns wieder aufgepeppt und wir schleichen uns zum Rand des Vorhangs, um zu sehen, wie die anderen Gruppen so abschneiden. Gerade hat der letzte Durchlauf begonnen, Tanzen nach einer ausgedachten Blitzchoreografie. Oh, oh, das Zweierteam, das wir beobachten, ist richtig gut. Es bekommt sogar Zwischenapplaus.