Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke

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Die Dorfbrunners - Helmut Lauschke

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sagen konnte, was er sagen wollte, weil er einfach nicht zu Wort kam und ihn der Konsistorialrat mit einem Redeschwall über die Grundlagen der Auslegung von Bibeltexten zugedeckt hatte, wobei er die Bemerkung mit dem Gemessenwerden am Text unzählige Male fallen ließ, als käme es ihm auf das Messen vor allem anderen an. Luise Agnes merkte ihrem Mann nach der Begegnung mit dem Konsistorialrat Braunfelder die Nervosität an, die zunahm, je näher der Sonntag der ersten offiziellen Predigt kam. Das Bammelgefühl an ihm war nicht zu leugnen. Er tat ihr leid, dass er die Bürde des Neuen allein zu tragen hatte, die statt leichter nach dem Gespräch mit dem Kirchenrat schwerer geworden war. Doch traute sie ihrem Mann mit der dorfbrunnerschen Dickköpfigkeit auch das nötige Durchstehvermögen und die Kraft zu, den ersten Gang auf die Kirchenkanzel heil und mit Würde zu gehen und beim Besteigen der Wendeltreppe nicht abzustürzen.

      Luise Agnes dachte an den schwarzen Anzug und den Termin beim Herrenschneider Stein, einem kurzgewachsenen Herrn im mittleren Alter, dem die Haare vorzeitig ausfielen, als zöge er sich die Haare mutwillig aus, und in den Randpartien ergrauten, während sie über dem Hinterkopf die dunkelbraune Farbe behielten. Die Koteletten aus dunklen Mischfarben zogen bis vor die großen Ohrläppchen der abstehenden Ohren herunter; das rechte Ohr hatte die Größe einer ovalen Suppenkelle und stand mehr ab als das kleinere linke Ohr. Vor beiden Gehörgängen kräuselten sich dichte braune Haarbüschel. Anders als im weißen Hemd und dunkler Krawatte mit geschlossenen Ärmeln und runden Manschettenknöpfen mit je einem dicken dunkelgrünen Smaragd kannte ihn Luise Agnes nicht. Schneider Stein, mit vollem Namen Jakob Stein, der einer polnischen Familie entstammte und ursprünglich Isak Jakob Stansky hieß, hatte sich im Namen dann verdeutscht, als er, noch jung an Jahren, eine Anstellung als Schneidergeselle bei einem alt eingesessenen Schneidermeister in der Stadt der drei Fördertürme fand. Seit einigen Jahren hatte er eine eigene Schneiderei am Stadtrand, genauer im so genannten Steigerviertel, unweit der Fördertürme, also nicht im besten Stadtbezirk. Dennoch nahm seine Kundschaft zu, weil er, wenn auch nicht die beste, so doch eine gute Arbeit zu erschwinglichen Preisen lieferte. Die Stoffe bezog er aus Böhmen und gab sich mit den teuren englischen Tuchwaren erst gar nicht ab. Jakob Stein hatte funkelnde dunkelbraune Augen und eine überproportional große Nase mit einem breiten Nasensteg, der die Knollennase nicht mehr weit entfernt war, in einem freundlichen Rundgesicht mit leicht aufgeworfenen fleischigen Lippen, das stets zu einem Späßchen aufgelegt war. Er hatte einen Bauch von beachtlichem Umfang und atmete beim Maßnehmen lauter als gewöhnlich; noch ungewöhnlicher war sein Keuchen, als kämpfte er sich durch einen asthmatischen Anfall, wenn er sich aus der gebückten Stellung aufrichtete oder von den Knien erhob und mit rotem Kopf oben ankam. Er trug eine dunkle Hose mit weitem Bund, die aus Gründen der größeren Bequemlichkeit an einem braunen Hosenträger mit weißem Mittelstreifen festgemacht war, der breitbändig und kurz über die Schultern zog. Luise Agnes hatte Schneider Stein auch einmal angetroffen, als ihm beim Maßnehmen von unten nach oben ein Hemdzipfel aus der Hose rutschte und wie ein verlorenes Fähnchen herumhing, ohne dass er es merkte.

      Eckhard Hieronymus Dorfbrunner hatte sich nach dem Bad in sein kleines Arbeitszimmer zurückgezogen, um an seiner Predigt zu arbeiten. Der Regen hatte aufgehört, und die ersten Sonnenstrahlen, es war zwischen elf und zwölf Uhr, brachen durch die Spalten der sich verziehenden Wolkendecke. Luise Agnes wrang die nassen Handtücher über dem Eimer aus und nahm sie von den Fensterbänken. Sie öffnete das Schlafzimmerfenster und erquickte sich an der würzig frischen Luft, die ins Zimmer strömte, als sie die Kopfkissen durchwalkte, um die Feder zu lockern, und die Decken zurückschlug, um die Betten zu lüften. Sie schaute durch den Türspalt ins Arbeitszimmer ihres Mannes, sah, wie er mit dem Schreiben beschäftigt war, und ging in die Küche, um Geschirr und Bestecke, die vom Frühstückstisch abgeräumt waren, zu spülen und dann mit dem Kartoffelschälen und Kochen zu beginnen.

      Der Koordinatenstand

      Es war das Jahr 1918. Lenin verkündete die Weltrevolution. Er sah Deutschland, nicht Russland, als das Land der Entscheidung an, aus dem diese Revolution kommen sollte. Für ihn stand es fest, dass nach der Geschichte der Ausbeutung der unteren Klassen durch die oberen die Völker sozialistisch sein würden, so dass es allein die bolschewistische Partei sein würde, die den Völkern die Selbstbestimmung brächte. Das deutsche Militär hatte Polen und Teile der baltischen Provinzen besetzt. Es wäre in der Lage gewesen, auch Finnland und die Ukraine zu besetzen, weil der russisch-imperiale Widerstand von innen heraus zerbrochen war. Deutsche Politiker, wie der Staatssekretär von Kühlmann, meinten in dem russischen Machtzerfall und seiner Folgen bereits die Anwendung der Selbstbestimmung jener Völker zu erkennen, die sich vom einstigen Zarenreich loslösten. So gab es in jenem Jahr Gespräche über die Selbstbestimmung zwischen dem russischen Unterhändler Leo Trotzki und der deutschen Diplomatie. Trotzki erwies sich als der klügere, weil er keine Garantien für die später in den baltischen Provinzen abzuhaltenden freien Volksabstimmungen gab. So stand Trotzki als Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechts da, ohne diesem Recht irgendeine Garantie unterzulegen. Nur weil das deutsche Militär in jenem Jahr noch eine starke Präsenz an der russischen Westfront hatte, waren es weniger die Grundsätze als das Gerangel um die Macht, dass sich die Verhandlungen dahinschleppten. Unter dem Druck des deutschen Vormarsches ins Baltikum und bis zum Peipussee, mit der Vertreibung der Bolschewiken, gab Lenin schließlich nach und ließ den Friedensvertrag von Brest-Litovsk, ohne ihn selbst gelesen zu haben, unterzeichnen, weil er diesen Vertrag für bedeutungslos hielt. Das osteuropäische Chaos blieb ungelöst und unlösbar, solange der Krieg im Westen mit dem Abschlachten von Menschen weiterging. Die Politik mit dem überfälligen Friedensangebot versagte auf ganzer Linie, weil auf deutscher Seite die Generäle mit von Ludendorff und von Hindenburg an der Spitze auf Macht und Schlacht um die riesige Landbeute mit den polnischen Kohlerevieren setzten und sich einer politischen Vernunft bis zur letzten Stunde mit Dummheit und Intrige widersetzten. Zwar hatte Deutschland 1916 ein polnisches Königreich ausgerufen, weil sich das Militär davon Vorteile gegen Russland versprach; doch die polnische Sympathie blieb aus. Es blieb das polnische Misstrauen gegenüber den Deutschen, die an den polnischen Teilungen so hartnäckig mitgewirkt hatten. Auch war der Traum der Wiedererrichtung des polnischen Großreiches von der Ostsee bis ans Schwarze Meer für die Polen selbst längst ausgeträumt. So ein Polen passte politisch nicht mehr in die europäische Landschaft. Ludendorff argumentierte militärisch, als er die Annektierung eines breiten Streifens aus dem russischen Polen an Deutschland forderte. Der Friedensvertrag von Brest-Litovsk war seines Papiers nicht wert. So bemerkte der General Groener: „Auch der so genannte Ostfriede ist eine höchst problematische Sache; der Krieg geht auch hier weiter, nur in anderer Form.“ Man erhoffte das ukrainische Getreide und kaukasische Öl, dass sich die deutschen Truppen dort selber holen mussten. Die chaotische Lage im Osten machte es unmöglich, genügend Truppen von der Ostfront an die Westfront zu verlegen, was immerhin fast eine Million waren. Die anderen Truppen blieben, wo sie waren, und rückten immer tiefer in den einst russischen Herrschaftsraum ein. Deutschland geriet in die vielfache russische Versuchung der Eroberung, Ausbeutung und Herrschaft, als die Flammen der proletarischen Revolution bereits hoch und blutrot loderten.

      Die Westmächte sahen im „Friedenschluss“ von Brest-Litovsk den letzten Beweis für die deutsche Brutalität ihrer Kriegsziele, mit der dem russischen Verbündeten ein Gebiet weggenommen wurde von der Größe Österreich-Ungarn und der Türkei zusammen, mit über 50 Millionen Einwohnern, 80 Prozent der Eisen- und 90 Prozent der Kohleproduktion. Für die Westmächte eignete sich ein solches Deutschland kaum noch als ein Verhandlungspartner in Sachen Friedensschluss. In seiner Analyse des Zeitgeschehens soll der Politikprofessor und amerikanische Präsident Thomas W. Wilson von der ‘Gewalt bis zum Äußersten’ gesprochen haben. Der Vertrag von Brest-Litovsk, den Lenin gar nicht gelesen hatte, weil er ihm keine Bedeutung beimaß, schwächte dagegen die deutsche Stellung in der Welt und ihre ohnehin angeschlagene Verhandlungsposition mit dem Westen. Der erhoffte Zustrom ukrainischen Getreides und kaukasischen Öls blieb aus. Mit der Aussichtslosigkeit der militärischen Lage spitzte sich die Katastrophe mit dem Hunger und der Truppenverzehrung an beiden Fronten zu. Über die deutsche Verhandlungsfähigkeit entschied der Geist der Generäle, die von Politik nichts wussten, politische Wege als Umwege betrachteten und an Ludendorffs Ausspruch festhielten,

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