Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke

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Die Dorfbrunners - Helmut Lauschke

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und Söhne, wenn sie sich nicht im ersten Kriegsjahr freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet hatten, später, als die Zahlen der Toten bereits ins Astronomische gingen, per Befehl zum Kampf mit der Waffe einberufen wurden. Die Einsicht kam spät, dass die Siegeszuversicht, wie sie Ludendorff und andere Generäle verkündeten, nicht mehr als eine Parole zum Durchhalten im gnadenlosen Kampf an der Front, im Spenden des restlichen Goldes und der sonst noch verbliebenen Wertsachen für die vaterländische Sache, und vor allem zum Durchhalten des Hungers und der rapide zunehmenden Armut. Die Zuversicht gründete sich auf ein Kartenhaus der falschen Tatsachen und wäre geräuschlos zusammengeklappt, wenn die Wahrheit zur rechten Zeit erkannt worden wäre. Nun kam sie zu spät, viel zu spät, und mit fürchterlichen Schlägen. So war es kein Wunder, dass etliche der vielen Männer nicht mehr in die Stadt zurückkehren würden. Das war den ernsten, teils melancholischen, teils depressiven Frauengesichtern ebenso anzusehen wie den blassen Faltengesichtern der Alten, die es meist stumm ertrugen, dass ihre Söhne auf den Schlachtfeldern blieben. Es waren die Alten, die das Leben bereits verbraucht hatte, die sich nun um die jungen Familien kümmerten, mit ihnen das Letzte des Ersparten teilten und sich den schulischen Aufgaben der Enkelkinder widmeten, wenn die Mütter als Haushaltshilfe in Häusern der gehobenen Mittelklasse, als Putzfrau in Büros oder als Serviererin oder Barfrau verdingten oder als Animierdame mit den animierten Folgen den Lebensunterhalt, mehr schlecht als recht, bestritten. In Anbetracht der Armut, die epidemische Ausmaße angenommen hatte, mit dem schneidenden Schmerz von Verlust und Hunger verwunderte es nicht, dass die Zahl der Jugendlichen mit den Kindergesichtern in erschreckendem Maße zugenommen hatte, die da in die Schächte untertage befördert wurden, um die Quoten der Kohleförderung in etwa zu halten. Es gab wieder Kinderarbeit in den Gruben, obwohl mutige Leute, wie der linksliberale Abgeordnete, der Anthropologe und Pathologe Rudolf Virchow, die skandalösen Verhältnisse der Kinderarbeit in den schlesischen Gruben mit den frühen Gesundheitsschäden, und die erbärmlichen, unhygienischen Lebensbedingungen der Arbeiter und ihrer meist kinderreichen Familien im preußischen Landtag auf das Heftigste angeprangert hatten.

      Eckhard Hieronymus Dorfbrunner war auf dem Heimweg zur Wagengasse 7, als er an einer Kneipe vorbeikam, deren Tür offen stand, vor der eine junge Frau mit einer leeren Tasche um ein Almosen bat, weil sie zu Hause drei Kinder habe, die an diesem Tag noch nichts zu essen bekommen hatten. Irritierend war das Stimmengewirr vor der Theke, wo sich offensichtlich Männer die Meinungen so laut sagten, dass sie auf der Straße zu hören waren. Nun kommt zum verlorenen Krieg und der Armut der Alkohol dazu, dachte er bei sich, holte eine Münze aus der linken Jackentasche und gab sie der jungen Frau. Zu Hause wartete Luise Agnes nicht ohne Sorge, weil sie mit einem so langen Spaziergang ihres Mannes nicht gerechnet, ihn auch nicht für einen so ausgedehnten Gang ermuntert hatte. „Wo warst Du denn gewesen, es ist gleich fünf, und Du wolltest noch an der Predigt arbeiten“, fragte sie ihn, als er sich die Schuhe und nassen Strümpfe an der Türschwelle auszog. Barfüßig und leicht irritiert stand er vor seinen jungen, besorgten Frau, mit den Schuhen in der linken und den Strümpfen in der rechten Hand, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und begann beim Gang in die Küche, den sie gemeinsam taten, von der Bank im See vor der Elisabethkirche zu erzählen, auf der er sich wie ein Einsiedler auf einer einsamen Insel vorgekommen sei. Er listete die Gedanken auf, die ihm auf der Bank durch den Kopf gegangen waren, und sagte im Versuch, sie zusammenzufassen, dass der Vater so unrecht nicht habe, wenn er in seinem Brief von einer schweren Zukunft spricht. Luise Agnes, die den Brief mit einigen Unterbrechungen gelesen hatte, korrigierte ihn, als sie sagte, dass der Vater in seinem Brief einen Schritt weiter geht und von einer Zukunft spricht, um die es nicht gut bestellt ist. „Ja, so hat er sich ausgedrückt, und ich glaube, dass schwere Zeiten auf uns zukommen“, bestätigte Eckhard Hieronymus die Sorge seines Vaters. Er erzählte von der Frau, die vor der Kneipe stand und um ein Almosen bat, die von drei Kindern sprach, die an diesem Tage noch nichts gegessen hatten. Luise Agnes bekam ein trauriges Gesicht, während sie am Herd stand und einen Kaffee aufbrühte. „Das ist ja schlimm!“, sagte sie entsetzt. „Konntest Du ihr etwas geben?“ „Ja, ich gab ihr die letzte Münze, die ich in der Jackentasche hatte.“ Sie setzten sich an den Tisch, schauten einander an und tranken an ihrem Kaffee. „Wie fühlst Du dich?“, fragte er seine junge Frau und dachte bei der Frage auch an das Kind, das, wenn alles gut verläuft, in einigen Monaten in diese Welt kommen würde, der der Vater eine schlechte Zukunft voraussagte, in der, so dachte er weiter, viele Frauen nicht nur vor den Kneipen stehen und um Almosen für ihre hungrigen Kinder bitten werden. Luise Agnes sagte, dass sie von der Schwangerschaft her außer der Zunahme der Brüste und des Bauchumfanges keine Probleme habe; sie müsse jedoch Kleider und Röcke den Gegebenheiten anpassen, sie weiter machen. „Freust Du dich auf unser Baby?“ „Ja, ich freue mich sehr. Was meinst Du, wird es ein Junge werden?“ „Vielleicht. In den Dorfbrunner-Familien gab es mehr Jungen als Mädchen. Das ist aber nicht so wichtig. Wichtig ist, dass wir ein gesundes Kind bekommen“, sagte er und lächelte seiner Frau in die Augen. Ihr Lächeln war allerdings verhalten; bei ihr bewegte sich etwas im Kopf, das sie ernst blieben ließ. Eckhard Hieronymus spürte, dass seine Frau etwas auf dem Herzen hatte, das sie bedrückte. Doch wollte er nicht gleich in sie eindringen, wollte ihr den freien Lauf ihrer Gedanken und Gefühle überlassen. „Ich habe den Brief des Vaters gelesen“, sagte Luise Agnes nach einer Minute des nachdenklichen Schweigens, „da sind mir doch die Tränen gekommen, die unglücklicherweise auf den Brief tropften, dass ich beim Wegwischen die Schrift an einigen Stellen verschmierte.“ Er sah sie an und sah, dass ihre Augen feucht wurden. „Das macht doch nichts, meine Liebe, auch mir sind die Tränen gekommen. Der Brief hat mich durchgerüttelt und bis ins Herz erschüttert. Die Eltern verzehren sich in der Ungewissheit über den Verbleib ihrer Söhne.“ „Ja, das tut weh; leid tut mir, dass wir ihnen nicht helfen können. Sie bräuchten jemand, der ihnen in ihrer Not beisteht“, sagte sie mit dem Ausdruck der Trauer. Sie schauten sich an in gegenseitiger Anteilnahme und Betroffenheit. „Vielleicht sollten wir die Eltern besuchen und uns über ihren Zustand vergewissern“, sagte Eckhard Hieronymus. „Das wird schwer sein“, erwiderte seine Frau, „Du fängst als Pfarrer hier gerade an, am Sonntag deine erste Predigt, dann kommen die anderen Gottesdienste mit den Taufen, die Bibelstunden und abendlichen Vespern. Trauungen werden selten sein, weil die Männer fehlen; dafür wird es viele Beerdigungen geben, weil es mehr Menschen sein werden, die das Leben in Armut, Einsamkeit und Hunger nicht mehr aushalten.“ „Ich gebe dir recht, ich kann hier nicht so schnell fort, nicht für eine Woche. Ich will die Menschen nicht enttäuschen. Auch glaube ich, dass Konsistorialrat Braunfelder es nicht verstehen würde, wenn ich ihm sagte, dass ich nach meinen Eltern sehen muss. Der würde erst ein neugieriges Gesicht machen, wenn er fragt, wer von den Eltern denn gestorben sei, weil es sich als schlechte Sitte mehr und mehr einbürgert, dass man nach den Eltern dann sieht, wenn es zu spät ist, wenn sie im Sterben liegen oder bereits tot sind. So würde aus dem neugierigen ein missmutiges Gesicht, wenn Herr Braunfelder erfährt, dass beide Eltern noch leben. Dann würde er womöglich sagen, dass es hier größere Aufgaben zu erledigen gibt, als nach den Eltern zu sehen, von denen keiner gestorben ist, beziehungsweise im Sterben liegt.“ „Was wir aber tun können und mit dem heutigen Tage tun sollten“, setzte Luise Agnes hinzu, „wir werden die Eltern und deine Brüder noch mehr als bisher in unser Gebet einbeziehen. Das sind wir deinen Eltern schuldig, die sich die Entsagungen auferlegt haben, um euch Söhne aufzuziehen, euch die Möglichkeit gaben, das Gymnasium und die Universität zu besuchen; deinen Brüdern sind wir es schuldig, weil sie für das Vaterland gekämpft und im Kampf ihr Leben eingesetzt haben.“ „Ja, das hast Du schön gesagt; wir werden für sie beten, werden ihre Namen im Gebet nennen und sie dem Schutz des Herrn anbefehlen.“

      Eckhardt Hieronymus Dorfbrunner erhob sich vom Tisch, während seine Frau mit dem Brief in der Hand, als wollte sie ihn noch einmal lesen, sitzen blieb. Er küsste sie auf die Stirn und bat um ihr Verständnis, dass er nun an der finalen Abfassung der Predigt arbeiten wolle. Er ging in sein kleines Arbeitszimmer, machte die Tür hinter sich und das Fenster vor sich zu und setzte sich an den kleinen Schreibtisch, der den Verfasser der Predigt seit dem zweiten Studienjahr begleitet. Er las noch einmal das 8. Kapitel aus dem 1. Korintherbrief, obwohl er den Text so gut wie auswendig kannte, dass er ihn in umgekehrter Versfolge hätte aufsagen können. Nach Minuten der Andacht mit dem Blick aus dem Fenster, wo er ein altes Ehepaar mit grauem Kopfhaar, faltigen Gesichtern und nach vorn gekrümmten Rücken nebeneinander gehen sah. Der alte Mann

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