Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke

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Die Dorfbrunners - Helmut Lauschke

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Gebet, zu dem sich die Gemeinde von den Plätzen erhob, wurde der Toten des Krieges gedacht, die ihr Leben für eine Sache hergaben, von der sie glaubten, dass es eine gute und gerechte Sache war. Den Menschen wurden die größten Opfer abverlangt, und sie haben die Opfer gebracht. Nun stehen sie vor dem Scherbenhaufen, dem niedergekämpften deutschen Vaterland. Die Menschen sind erschöpft, sie sind sprach- und fassungslos; sie fürchten sich vor der Zukunft und sind mehr, als jemals zuvor, auf die Hilfe des Herrn angewiesen. „Herr, sieh die Tränen in unseren Augen und die Trauer in unseren Herzen. Wir haben das höchste Gut, unsere Männer, Väter und Söhne verloren und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Mit den Toten in unseren Herzen und den entsetzlich Zugerichteten vor unseren Augen bleibt uns nun das Weinen. Herr, nimm uns die Tränen ab. Sieh das Tränenmeer, das wir geweint haben, in dem wir ertrinken werden, wenn du uns nicht rettest. Wir sind schwach und wissen, dass wir es aus eigener Kraft nicht schaffen, die Bürde des Verlorenen, der Ungewissheit, der Einsamkeit und der Armut zu tragen. So knien wir vor dir in tiefer Demut und Verzweiflung. Schau auf uns herab, gib uns deine Hand und richte uns auf. Tu es um deiner Güte willen. Amen!“ Dann wurde das Glaubensbekenntnis in der lutherschen Fassung gesprochen. Danach setzte sich die Gemeinde auf die Bänke zurück und sang nach einem kurzen Orgelvorspiel das nächste Lied, wobei sich der Organist den Freiheiten tonaler Kurzschnörkel und langgezogener Höhentriller über der tonabwärtsgehenden Basslinie nicht entzog, die immer brummender wurde, je tiefer es mit den Frequenzen in den Keller ging.

      Nun stand Eckhard Hieronymus Dorfbrunner auf der Kanzel. Die schmale Wendeltreppe hatte er mit leicht gesenktem Kopf, den Blick zu den Stufen und der kleinen Handbibel in der rechten Hand mit Anstand und Würde genommen, ohne dabei wichtigtuerisch oder anderswie schwer zu wirken. Im Gegenteil, er wirkte körperlich leicht und im Schritt elastisch. Das dorfbrunnersche Gesicht mit den leicht ausgebuchteten Wangenknochen, dem typischen Gesichtsmerkmal der Sorben in der Oberlausitz, schaute von einem langen, hageren Körper mit einem schmalen Hals über den leicht abfallenden Schultern, die in ihrer geringen Breite, die durchaus in der Normbreite lag, einem Intellektuellen und nicht dem Handarbeiter oder Brunnenbauer vom Schlage der alten Dorfbrunners entsprach. Er sah in die Bibel vor sich auf dem kleinen Lesepult, blickte auf, blickte über die Gemeinde und las die 13 Verse aus dem 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Er las ohne Übertreibung und unnötige Akzente zu setzen, wobei die Stimme kräftig und fest war. Die Aussprache war klar und deutlich. Nach der Lesung und einer weniger als halben Schweigeminute der Besinnung, begann er mit der Auslegung des Textes, den persönlichen Worten, an denen er in den vergangenen Tagen mit gtoßer Hingabe gearbeitet hatte:

       Liebe Brüder und Schwestern!

       Wer war der Apostel Paulus, der zu den Korinthern in so scharfer Weise sprach? Wer waren die Korinther, die sich so etwas sagen ließen? Lassen sie mich mit der zweiten Frage beginnen. Die Korinther waren Kaufleute, die mit ihren Schiffen Handel trieben, der weit in die Ägäis bis nach Kleinasien und über das Ionische Meer bis nach Süditalien, Sizilien und dem heutigen Tunesien reichte. Sie handelten mit Kaffee, Tee, Gewürzen, Tabak, Quarz- und Edelsteinen, mit Teppichen und Tüchern aus Kleinasien, mit Kupfer, Gold, Elfenbein und Edelhölzern, mit Krokodil- und Leopardenfellen, mit Diamanten und dem Papyrus aus Afrika, mit gewirktem Schmuck und handwerklichen Gegenständen vom Peloponnes, mit schmiedeeisernen Stangen, Kugeln, Rädern, Pflugscharen, Messern und Schwertern von Sizilien, mit der roten Tonerde, dem geschliffenen Marmor und mit Tüchern aus Italien. Sie machten es den Karthagern nach. Was war die Folge? Die Korinther häuften einen bis dahin unvorstellbaren Reichtum. Für die schwere Arbeit hielten sie sich Leibeigene, die sie vom Peloponnes oder Sizilien heranschafften. Zudem beschafften sie sich Sklaven aus Kleinasien und Afrika, die wie eine gewöhnliche Handelsware gegen eine andere bezahlt, beziehungsweise getauscht wurden. So gab es in Korinth neben dem blendenden Reichtum eine bittere Armut der vielen Menschen, die rechtlos waren und nach Strich und Faden ausgebeutet wurden. Die Menschen, weil sie völlig mittellos waren, sie hatten weder Schuhe an den Füßen noch ein Hemd am Körper, wurden genommen, gebraucht, verschlissen und verstoßen, so wie es der Obrigkeit gerade passte. Die Schere zwischen Armut und Reichtum klaffte unsäglich weit. Es war die Armut der Entrechteten, die zum Himmel schrie, während die Wohlhabenden sich im Reichtum und im Luxus wälzten. Das waren die Korinther.

       Nun zur ersten Frage: wer war der Apostel Paulus? Er war ein Mann mit offenen Augen, dem der Reichtum der einen und das zum Himmel schreiende Elend der andern nicht entging. Er hatte ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, das ihm schon in die Wiege gelegt worden war. Nach der Erscheinung des Herrn auf dem Wege nach Damaskus, als ihm der Herr so hell erschien, dass sein Auge für Tage geblendet war, nahm sein turbulentes Leben eine Wendung um einhundertachtzig Grad. Paulus gab sein Leben und Wirken ganz dem Herrn hin. Er predigte sein Wort, wo er auch war, mit einer Macht, die es so zuvor nicht gegeben hat. Er bezeichnete sich als den Knecht des Herrn und war ein unerschrockener, unbeugsamer Kämpfer für die Sache des Glaubens. So trat er den Korinthern gegenüber, denen er wegen ihres sündigen Verhaltens mit der lieblosen Überheblichkeit, der Ichbezogenheit und Raffgier nach Geld und Reichtum erst einmal die Leviten las. Das tat er im Hinblick auf die Botschaft des Herrn, für die er den Boden bereiten, die Köpfe und Herzen der Korinther entschlacken und säubern musste. Paulus hielt diesen Menschen, die nach Wohlstand und weltlicher Macht in rücksichtloser Gier strebten, den Spiegel vors Gesicht, hielt ihnen die Vernachlässigung in der Fürsorge um die Kinder, Schwachen und Waisen vor, zeigte mit dem Finger auf ihre versteinerten Herzen, rüttelte am Bretterwerk der verkommenen Sitten mit dem Verlust der Tugend und der Ideale, stellte den Fuß bis an den Sumpf ihrer Schlechtigkeiten heran, schlug mit dem Stock der Worte hart darauf, dass der Schmutz in ihre Gesichter und auf die weißen Gewänder spritzte. Nein, Paulus nahm kein Blatt vor den Mund, wenn er die Ausschweifungen und Irrungen brandmarkte, wenn er auf das Lügen und Betrügen, auf das Verdrängen und Vergessenwollen der bösen Taten zu sprechen kam; da ließ er nicht mit sich reden oder spaßen, weil ihm die Kinder und Armen am Herzen lagen, denen die Unschuld und das Recht auf ein Leben in Anstand und Würde nicht durch die gewissenlose Ausbeutung, durch andere Schweinereien und Machenschaften genommen werden durfte. Paulus sah den Menschen in die Gesichter, sah ihnen die Scheinheiligkeit, die vorgetäuschte Leutseligkeit und verlogene Unbekümmertheit an. Es waren oft die gut gekleideten Herren, die Menschen aus den besseren Kreisen, denen es an Essen und Trinken nicht fehlte; das sah er ihnen an. Ihren Sprüchen trat der Apostel mit erhobener Hand entgegen und ermahnte sie ernsthaft, endlich von den Lügen abzulassen und zur Wahrheit zurückzukehren, auch wenn der Weg zur Wahrheit mit spitzen Steinen, Scherben, Stacheldraht und anderen Hindernissen ausgelegt ist. Es war schon damals so, dass es Menschen gab, die sich im vorgehaltenen Spiegel nicht erkennen oder wiedererkennen wollten. Einige der Gespiegelten drückten das eine oder das andere Auge zu, oder stellten sich auf beiden Augen blind. Da platzte dem Apostel Paulus der Kragen und half mit Worten nach, die messerscharf waren und den Heuchlern, den scheinheiligen Täuschern und den anderen unbekümmerten Falschgesichtern ins verdorbene Fleisch schnitten.

       In dieser Weise, der stets die Beispiele der Taten, das Wort ‘Untat’ ist doch nicht eindeutig genug, vorangestellt wurden, tat es der Apostel Paulus mit den Menschen in Korinth. Da gab es viele wohlhabende Menschen, dass es nicht in den Kopf der Güte ging, wenn bei all dem Reichtum, der sich da durch den Handel angehäuft hatte, es Menschen und vor allem Kinder gab, die in jämmerlichen Hütten oder hinter Brettern lebten, die sich in ihrem Leben nicht satt essen konnten, sich zu Tode hungerten, denen die Armut das Kleid der menschlichen Würde und Scham zerriss, ja vom Leibe gerissen wurde, die, weil sie bettelarm waren, von denen, die genug zum Leben hatten, verachtet, geschlagen und verstoßen wurden. Was waren das für Menschen in Korinth? Diese Frage lässt sich mit voller Berechtigung auch in unserer Zeit stellen. Denn auch bei uns klafft die Schere zwischen Armut und Reichtum auf eine unerträgliche Weise. Die Not der Menschen geht soweit, dass Kinder nicht mehr regelmäßig zu essen bekommen, manchmal den ganzen Tag über hungern, dass Frauen und Mädchen ihren Körper gegen Bezahlung hergeben, um die Familien zu ernähren. Die Gesellschaft ist in Unordnung geraten, wofür der Krieg und sein katastrophales Resultat sicherlich mitgewirkt haben, aber nicht allein für den moralischen Verfall verantwortlich zu machen sind. Die Ideale sind verschlissen; ja die Opfer waren groß, unbeschreiblich groß. Nun müssen

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