Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke
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Totensonntag
Draußen herrschte die trübe Stimmung. Drinnen in den Häusern und noch weiter drinnen in den Herzen der Menschen war die Stimmung nicht besser. Das Wetter war regnerisch und kalt. Den Menschen fröstelte es außen in ihrer dürftigen teils zerlumpten Kleidung und innen durch die Ungewissheiten, die der verlorene Krieg mit seinen hereinbrechenden Folgen über sie wie ein großes Unwetter ausschüttete. Die Menschen kamen sich verraten und verloren vor, das sah man den herben Zügen ihrer Gesichter an. Sie kamen sich so sehr verloren vor, dass sie eigentlich gar nicht mehr sprechen wollten, besonders über die Verlorenheit nicht. Selbst beim Grüßen taten sie sich schwer, vom freundlichen Gruß ganz abgesehen, was Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, wenn er durch die Stadt ging oder von der Wagengasse 7 den direkten Weg zur Kirche nahm, oder von der Kirche auf dem Heimweg war, schmerzlich empfand. „Wie wollen die Menschen nur das Gotteswort aufnehmen, wenn sie die Trauer, die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit so plagt, sie so steinhart macht, dass alles an ihnen abprallt, egal, ob es ein freundlicher Gruß, ein Wort des Helfenwollens oder ein Gefühl der Mitmenschlichkeit, der Geste menschlicher Zuneigung war“, dachte er, wenn er grüßte, ohne dass der Gruß erwidert wurde. Solche Verhärtungen waren schädlich; sie waren die denkbar schlechteste Voraussetzung, den verkrämten und in sich zusammengerollten Menschen, die sich aus dem Verband der kleinen städtischen Gesellschaft absonderten, weil sie sich ausgestoßen fühlten, und sich mit Händen und Füßen „verteidigen“, sich nach Kräften der Eingliederung ins Leben der Gemeinschaft widersetzten, mit einer Predigt zu kommen. Jeder fühlte sich auf seine Weise verraten und verkauft; das in Bezug auf die einstigen Ideale für das Vaterland mit der Opferbereitschaft und auch auf die gebrachten Opfer mit der Weggabe der Wertsachen, die zum Teil Erbstücke waren. Die große Armut trug zur großen Lähmung beträchtlich bei. Den kinderreichen Familien fehlte das Geld für Nahrung und Heizmaterial in dieser kalten Jahreszeit. Die Folgen waren verheerend. Der Anblick der abgemagerten Kinder in ihrer zerlumpten Kleidung mit dem zerrissenen Schuhwerk, wenn sie ein solches Werk überhaupt trugen, war herzzerreißend. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Verfinsterung war die aufkommende Straßenprostitution, die, das musste zur weiteren Schande beklagt werden, vor den Kindern nicht halt machte, ein Fleck des moralischen Niedergangs. Diese Art der Geldbeschaffung war in der Armutsabwehr oder Armutslinderung nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie hatte die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaften zur Folge, die sich für die Mädchen besonders nachteilig und schmerzhaft auswirkten, die zu familiären Zerrüttungen und insgesamt zum Niedergang einer bislang mehr oder weniger geordneten Gesellschaft führten.
Der Regen wurde stärker, das Wetter trüber, als die Glocke der Elisabethkirche läutete. Diese Glocke war die kleinste von drei Glocken; deren größere und tiefer tönenden Schwestern aus dem gemeinsamen Glockenstuhl im zweiten Kriegsjahr ausgehängt, abtransportiert und eingeschmolzen wurden, um als Eisen nicht dem Herrn und seiner Gemeinde, sondern zur Herstellung von Kanonenrohren zu dienen. Dieser Wechsel in der Glockenfunktion kam auf höchste weltliche Anordnung, der sich die Gemeinde und Kirchenoberen, der Konsistorialrat sei da eingeschlossen, durch Bittbriefe und andere friedliche Vorstellungen nicht widersetzen konnten. Die Frage, die sich viele Menschen stellten, ob sich die Kirchenoberen wirklich um den friedlichen Glockenerhalt bemüht hatten, blieb ein versiegeltes Geheimnis.
Eckhard Hieronymus Dorfbrunner und seine junge Frau, Luise Agnes Dorfbrunner, hatten sich bereits vor dem hohen, hohltönernen Bimmelgeläut auf den Weg gemacht, hatten schon vor diesem Sonntagsgeläut die Kirche betreten. Luise Agnes nahm in der zweiten Bankreihe Platz und führte ein langes Gebet im Stehen, in dem sie den Herrn um Vergebung der Sünden und um seine Erleuchtung und Führung bat, ihrem Mann die Kraft eines Apostels zu geben und ihm bei der Predigt die Zunge zu führen. Eckhard Hieronymus hatte sich in der Sakristei den Mantel aus- und den Talar übergezogen, an dem der Küster, ein hagerer Mann der sechziger Jahre mit grauem Haar und vielen Falten im Gesicht, die Halskrause zurechtrückte. Herr Krause war ein aufmerksamer, freundlicher Herr, der dem jungen Pfarrer als Neuling alles Gute zu seinem Einstand wünschte. Er sagte, dass er eine starke Predigt erwarte, denn die Menschen seien durch den verlorenen Krieg alle aus dem Gleichgewicht geraten; sie seien sprachlos und überempfindlich, gerieten aus dem Häuschen, wenn man sie um etwas frage. „Ich werde mich bemühen“, sagte Eckhard Hieronymus zum Küster, „und hoffe, dass mir der Herr den Rücken stärkt und die Zunge lockert.“ Darauf meinte Herr Krause, dass der Herr das schon tun werde, wenn er darum gebeten wird. Das dünne Einglockengeläut war nach einigen unregelmäßigen Nachschlägen, die sich fehl platzierten und dem vorangegangenen Geläut zu widersprechen schienen, zur Ruhe gekommen, war so verstummt, wie es viele Menschen waren, die die Sprache durch die jüngsten Ereignisse verloren hatten. Herr Krause ging kurz hinter den Altar, um sich einen Überblick im Kirchenschiff zu verschaffen. Er kam zurück und sagte, dass die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt sei. Auch der Herr Konsistorialrat sei mit Frau und Tochter erschienen und sitze in der ersten Reihe neben dem Oberstudiendirektor Dr. Hauff des vom Stein’schen Gymnasiums, dem Gutsherrn von Falkenhausen und einigen Sponsoren aus dem Minenkonsortium. Die Tür zur Sakristei stand halb geöffnet, so dass die Stimmung aus dem Kirchenraum gut zu verfolgen war. Es trat Ruhe ein, die nur durch Hustenattacken durchbrochen wurde. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner fragte Herrn Krause, der an der Tür mit Blick in das Kirchenschiff stand, ob er den Kollegen Altmann, den Inhaber der ersten Pfarrstelle gesehen habe. „Der liegt mit einer fiebrigen Grippe im Bett und lässt sich entschuldigen.“ Nachdem sich die Hustenanfälle weitgehend beruhigt hatten, schritt der Küster neben den Altar und blickte zur Empore hoch. Nach einer leichten Nickbewegung begann die Orgel zu rauschen. Der Organist drückte energisch in die Tasten und Pedale, gab ein kurzes, kurvenreiches Vorspiel, das zur Intonation des ersten Liedes, einem Reformationslied, führte. Die Gemeinde sang; fünf Strophen waren ihr zum Singen aufgegeben.
Mit Beginn der dritten Strophe öffnete Herr Krause die Tür zur Sakristei bis hintenhin. Das war das Zeichen für den neuen Pfarrer, den Kirchenraum zu betreten. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, 31 Jahre alt, betrat den großen Raum, nicht ohne Nervosität. Er schritt die beiden Stufen hoch zum Altar, blieb mit dem Rücken zur Gemeinde schlank und gerade vor dem Altar stehen und blickte aufschauend zum Kreuz, dem Zentrum des Glaubens und Wirkens. Da stand er tadellos, fast soldatisch. Es bewegte sich nichts an ihm. Die Gemeinde war in der Mitte der fünften Strophe, als er in lutherischer Weise das Kreuzzeichen mit sparsamer Handbewegung auf seine Brust schlug, sich umdrehte und den ersten offiziellen Blick in die Gemeinde nahm. Er tat es in einer sympathisch bescheidenen Weise, die der Gemeinde zusagte, ihr jedes Vorurteil einer Überheblichkeit augenblicklich wegnahm, es grundlos verfließen ließ. Nun stand Eckhard Hieronymus Dorfbrunner mit dem Gesicht zu den Menschen. Es lag eine feine, nervöse Spannung auf seinem Gesicht, die gepaart war mit der Blässe der Erregung, wenn etwas Neues ins Leben trat, das Zeit brauchte, um sich daran zu gewöhnen. Er selbst betrachtete die Gemeinde als ein Gesicht, ohne die Einzelgesichter zur Kenntnis nehmen zu können. Das wollte er auch nicht, dafür stand mit dem Wort des Apostels und dem, wie er das Apostelwort auslegen wird, zuviel auf dem Spiel. Eckhard Hieronymus stand, er stand wie eine Eins; da wackelte und zitterte nichts; sein gerader Blick ging in Richtung Hauptportal. „Großartig!“, dachte Luise Agnes, die in der zweiten Reihe hinter dem Konsistorialrat, seiner Frau und seiner Tochter sowie den anderen Herren der gehobenen Bedeutung mit ihren Frauen und Kindern saß. Sie bemühte sich, so unauffällig wie möglich zu sitzen. „Herr, gib ihm die Kraft, dass er so gerade auf der Kanzel steht, wie er jetzt vor der Gemeinde steht. Lass ihn nicht stürzen, weder mit den Beinen noch mit den Worten“; das betete sie lautlos in ihrem Herzen. Die sonore dorfbrunnersche Stimme füllte die Kirche, schlug gegen Fenster und Wände und hallte zurück; sie drang zur Empore hoch, als Eckhard Hieronymus die Ankündigungen für die Woche, die letzte im alten Kirchenjahr, verlas. Die Stimme allein hatte schon etwas Gewaltiges. Wie wunderbar wäre es, wenn dieser kräftigen Stimme die innere Wortgewalt in der Predigt hinzukäme, sinnierte Luise Agnes mit dem Blick in ihr Gesangbuch. Nach dem nächsten Lied, dessen Text Paul Gerhardt abgefasst hatte, kam es zur Verlesung des 6. Psalms, dem Bußgebet Davids: „Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken, und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du, Herr, wie lange! Wende dich, Herr, und errette meine Seele;