Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke

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Die Dorfbrunners - Helmut Lauschke

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seinem Reichtum gekommen ist. Eckhard Hieronymus gingen bei der Betrachtung der Herren vom Minenkonsortium einige Aussprüche in Bezug auf die Armut durch den Kopf: 1) „Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen...“ (Rilke: Von der Armut und vom Tode); 2) „In dieser Armut welche Fülle / In diesem Kerker welche Seligkeit!“ (Goethe: Faust I; Abend. Ein kleines reinliches Zimmer); 3) „Wirklich reich ist nur der Arme!“ (chinesisches Sprichwort).

      Einer dieser Herren kam auf den verlorenen Krieg zu sprechen. Er sagte mit ernstem Gesicht, dass man nur hoffen könne, dass die Kriegslast nicht zu schwer wird. Der Konsistorialrat und der Oberstudiendirektor machten große Augen, während sich Herr von Falkenhausen die Nase putzte. Die Ehefrauen in der Sakristei hörten das Wort ‘Krieg’ und stellten sich neben ihre Männer. Der Herr „vom verlorenen Krieg“ fuhr fort und schilderte kurz die Probleme in der Mine, wo es an Männern fehle, dass die Förderquoten nicht mehr gefahren werden konnten. Eckhard Hieronymus fand das Thema eigentlich nicht am Platze und auch nicht hilfreich zur Bewältigung der schrecklichen Vergangenheit. Er sagte dem Herrn, dass der Krieg den Menschen eine Last aufgebürdet hat, die, wenn es menschlich gesehen wird, unglaublich schwer sei. Der Verlust der Väter und Söhne sei nicht wiedergutzumachen. Wenn es noch eine Moral gibt, dann sollte auch der alte Satz des Laotse gelten, der sagt: „der Sieger im Kriege gehört dahin, wo nach der Sitte die Trauernden stehen.“ Dieser Satz fand bei den Frauen seine Zustimmung; die Männer blieben stumm und machten bedrückte Gesichter. Dann nahm Dr. Hauff das Wort, der offensichtlich in der chinesischen Philosophie bewandert war. Er sagte, dass diesem Laotse-Satz ein anderer Satz vorausgeht, und er zitiert: „Der Sieger gibt sich nicht der Freude hin, denn Freude am Siege haben, heißt Freude haben am Menschenmord.“ Der Tiefpunkt war erreicht. Eckhardt Hieronymus spürte das Abgleiten von der Botschaft, die Paulus im 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes gab, als wenig hilfreich, die Probleme, die die Zukunft mit ihren Unwägbarkeiten für die Menschen bereithielt, anzupacken; ja, er empfand das Abgleiten als destruktiv und unangemessen für die Situation, in der sich die Menschen befinden, mit ihren Ängsten, Befürchtungen und Sorgen. So ist es mit dem Wissen; es bläst auf, kann eine Person für eine kurze Zeit wichtig machen, beziehungsweise sich wichtig nehmen lassen. Wenn aber aus dem Wissen die notwendige Konsequenz zur Tat nicht folgt, die Entscheidung nicht getroffen wird, dann ist das Wissen bedeutungslos; die Blase platzt wie eine Seifenblase, wo am Ende nichts übrig bleibt. Das Wissen ohne Umsetzung in die Tat hat keinen Wert. Auch sah sich Eckhard Hieronymus um die Frucht seiner Arbeit gebracht, deren Ziel es war, den Menschen mit den Worten des Apostels das Vertrauen, die Kraft und die Hoffnung wieder greifbar zu machen, die doch in den Ängsten und der Verzweiflung durch die schrecklichen Erfahrungen verloren gegangen waren, die der verlorene Krieg gebracht hatte und weiter bringen würde. Der Blick musste nach vorne gerichtet werden, und diesem Blick mit dem Mut nach vorwärts galt seine Predigt.

      Den Frauen war es nun genug. So zog die eine dem Konsistorialrat am Rock und die andere dem Oberstudiendirektor am Ärmel. Letzterer konnte das Blasen mit dem Wissen nicht lassen. So sagte er, dem Ärmelzupfen seiner Frau folgend, dass es ein interessantes Gespräch war, das die Fortsetzung verdiente. Er wolle es mit einem Satz des Konfuzius abschließen: „Wissen ist, wenn man das, was man weiß, als Wissen gelten lässt, so wie man das, was man nicht weiß, als Nichtwissen gelten lässt.“ Eckhard Hieronymus kannte den Satz, weil ihm sein Vater, Georg Wilhelm Dorfbrunner, der als Oberstudienrat und Rektorstellvertreter Geographie und Geschichte in der Oberstufe am Stiftsgymnasium für Knaben in Breslau unterrichtete, diesen Satz in regelmäßigen Abständen ins Hirn hämmerte. Er gebrauchte allerdings eine etwas andere Fassung, nämlich die: „Was man weiß als Wissen gelten lassen, was man nicht weiß als Nichtwissen gelten lassen: das ist Wissen.“ In der Fassungsfrage hielt der Sohn es doch mit der Fassung des Vaters. Mit diesem Spruch konnte er als Kind nie etwas anfangen, hatte eigentlich nie einen Sinn darin erkennen können. Auch wenn der Vater ihm diesen Satz als Lehrsatz vorhielt, der Sohn fand ihn sinnlos und banal, hielt diesen Satz nicht für einen Lehrsatz von irgendwelcher Bedeutung, hielt ihn vielmehr für einen bedeutungslosen, inhaltsleeren Satz, kurz Leersatz, der sich noch nicht einmal für einen Zwischensatz eignete. Erst viel später, als er in die letzten Studienjahre gekommen war, erkannte er die Bedeutung dieses Satzes, wenn es Dozenten und Professoren fertig brachten, über eine einfache Sache, die jeder mit einem gesunden Menschenverstand und ein bisschen Schulbildung mit wenigen Sätzen abhandeln konnte und auch abhandelte, einen Monolog mit lateinischen Fremdworten, Konjunktiven und Widersprechungen vom Stapel ließen, dass man nicht mehr wusste, wo vorn und hinten und die Mitte war, weil das Hirn da nicht mehr mitmachte, das sich das feine Gefühl für die Linearität der Logik nicht wegnehmen ließ. Es gab unter den Lehrern, das fing schon am Gymnasium an und wuchs sich an der Universität zu einem Wasserkopf aus, Typen, die Sprechvirtuosen und Vielredner waren, die redeten ohne etwas zu sagen. Es funkte erst in Eckhard Hieronymus, als er das Pauluswort vom Wissen, das aufbläst, las. Von da ab betrachtete er genauer, kritischer, bald aber schmunzelnd mit dem Zusatz des Gähnens und dem schnöden Gefühl des Gelangweiltseins die Leute, die gern und viel reden, mit viel denkerischer Mimik und anderer gesichtiger Wichtigkeit vom unteren Philosophenkaliber, wie sie doch mit einem feuchten Enthusiasmus in der Aussprache und einer ungewöhnlichen, fast grenzenlosen Hingabe um den heißen Brei und dann noch weiter reden, wenn sich der Brei selbst bereits verzogen hat. Er sah bei diesen Monstern von Monologen in seiner Phantasie, wie sich die Redner weiter und weiter aufbliesen, bis der Punkt erreicht war, wo die Blase platzte, dass von der Rede nichts mehr da war, und der Redner als geschrumpelter kleiner Zwerg, oft sogar als Minizwerg, die Beine unter die Arme nahm und die Kurve kratzte. Der Spruch gilt weiter: wer sich aufbläst, der muss sich auch abblasen lassen; wer sich noch mehr aufbläst, läuft Gefahr, dass er platzt und sich gleich mit sofortigem Effekt in Luft auflöst. Da gefiel dem von diesem Gespräch doch enttäuschten jungen Pfarrer nach seinem Einstand mit der ersten Predigt der Kurzsatz des Vaters der griechischen Philosophie in seiner gehaltvollen Kompaktheit begriffsnäher und einleuchtender, der es griechisch sagte, was in der lateinischen Übersetzung lautet: Scio ut nesciam, ich weiß, dass ich nichts weiß. Es war Sokrates, der dem Schüler Theätet auf seine Bemerkung: „es schwindelt mir“, sagte, „dies sei der Anfang der Philosophie.“ Eckhard Hieronymus sagte die Sokratische Weisheit deshalb zu, weil es diesem Philosophen um die Erkenntnis und nicht um das aufgeblasene, aufgeblähte Wissen ging. Das wusste auch Paulus, der offensichtlich die Schriften Plato’s über Sokrates gelesen hatte, wenn er im 2. Vers des 8. Kapitels im 1. Korintherbrief sagt: „Wenn sich jemand dünken lässt, er wisse etwas, der weiß noch nicht, wie man erkennen soll.“ Den 3. Vers, in dem Paulus sagt: „Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt“, dürfte 400 Jahre früher Sokrates so formuliert haben: Wenn aber jemand die Weisheit liebt, der ist von ihr erkannt. Für beide ist es die Liebe, die zur Erkenntnis „aufbaut“.

      Die Frau Konsistorialrätin zupfte nun energisch am Rock ihres Mannes, der die Aufforderung zum Aufbruch beim Schopfe packte, einen Schritt zur Mitte der Runde tat und die Sache so zum Abschluss brachte, dass er sagte: „Das möge für heute genügen. Mir ging es eigentlich nur darum, Ihnen, meine Herren vom Konsistorium, den neuen Pfarrer vorzustellen. Ich gehe davon aus, dass Sie genügend Gelegenheit hatten, sich einen ersten Eindruck von Pfarrer Dorfbrunner zu verschaffen. Wir werden in Zukunft noch Gelegenheit haben, Gespräche miteinander zu führen. Ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit.“ So verabschiedete sich Konsistorialrat Braunfelder und seine Frau mit Handschlag vom Oberstudiendirektor Dr. Hauff und seiner Frau, von Herrn von Falkenhausen und den Herren vom Minenkonsortium. Fast hätte der Konsistorialrat vergessen, und weil er es fast vergaß, vergaß es fast auch seine Frau, sich von Pfarrer Dorfbrunner auf die gleiche Weise zu verabschieden. Auch bei diesem Abschied kam dem Konsistorialrat bezüglich der Predigt kein Wort über die Lippen, und weil ihm die Lippen klemmten, so klemmten sie bei seiner Frau. Anders verhielten sich der Oberstudiendirektor und seine Frau, die bei der Verabschiedung ein lobendes Wort für die Predigt fanden, als beide wie aus einem Munde sagten, dass es die beste Predigt seit Monaten gewesen war. Ähnlich verhielt sich Herr von Falkenhausen, der von einer gehaltvollen Predigt sprach, die auf einer fundierten Bibelkenntnis aufgebaut war. Eckhard Hieronymus enthielt sich einer Stellungnahme, da er nicht wusste, wie wahr diese lobenden Worte gemeint waren. Am ehesten traute er dem Gutsherrn den wahren Wortkern zu, dagegen weniger dem Oberstudiendirektor,

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