Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke

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Die Dorfbrunners - Helmut Lauschke

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zog die Wärmekappe von der Kanne, goss den Tee in die Tassen und rührte in beiden Tassen den Zucker ein. „Bist Du zufrieden mit deiner Predigt?“, fragte sie nicht ohne Neugier über die Auslegung des 8. Kapitels aus dem 1. Korintherbrief, den auch sie durch mehrmaliges Lesen so gut wie auswendig kannte. Jedes Mal war sie von der Sprache des Apostels ergriffen, weil sie bildhaft plastisch, auch im weiteren Sinne der Bildung, war. Eckhard Hieronymus begann über die Abfassung der Predigt zu sprechen, die noch einige Ecken und Kanten habe. „Wenn ich daran feile, dass die Ecken und Kanten verschwinden, dann verliert die Predigt die Würze, ohne die der Text fahl und geschmacklos wird. Die Botschaft muss rüberkommen, muss an den Nervenenden ansetzen. Das Wort muss zünden, muss unter die Haut gehen, muss an der Lunte der Nervenstränge entlang glimmen und die Botschaft wie ein Geschoss in den Herzen zur Explosion bringen. Da kann ich doch nicht alle Ecken und Kanten glatt feilen, dass man darüber mühelos mit den Rollschuhen laufen oder mit den Schlittschuhen darüber gleiten kann. Ohne den Stolperstein kommt der Mensch doch nicht zur Besinnung.“ Luise Agnes sah ihren Mann an; ihre Neugier wuchs, und noch während des Essens bat sie, dass er den Text doch vorlesen möchte. Er kam ihrer Bitte nach, legte die angebissene Scheibe Brot auf den Teller zurück, fuhr mit der Serviette über den Mund, nahm noch einen Schluck Tee, griff nach den Bögen und las. Luise Agnes unterbrach das Essen und hörte ihm zu. Ihr gefiel die sonore Stimme ihres Mannes; es lag Bestimmtheit in ihr, die man nicht so leicht kippen konnte. Alle Dorfbrunners, der Vater, wie auch die Brüder Friedrich Joachim und Hans Matthias, hatten die kräftige Stimme. Wenn sie sprachen, wusste der Hörer, woran er war. Der Inhalt des Textes sprach sie an. Es gab Abschnitte, die ihr direkt aus dem Herzen sprachen. So gefiel ihr der Satz mit dem Propheten, der da sagt: Andere werden die Früchte von den Bäumen ernten, die ihr mit Fleiß und Mühe gepflanzt und verschnitten habt. Nicht weniger gefiel ihr der Satz zu: Ihr möget säen; ob ihr die Früchte euer Saat ernten werdet, das steht in der Allmacht Gottes. Tief berührte sie der Satz von den Armen, denen die Armut das Kleid der menschlichen Würde und Scham zerreißt, oder vom Leibe gerissen wird. Bei der Frage, ob das noch Menschen in Korinth waren, übertrug sie die Frage in die schlesische Stadt, in der sie mit eigenen Augen die bittere Armut an den geputzten Häusern der Wohlhabenden vorbeigehen sah. Auch hier klaffte die Schere zwischen Wohl und Wehe auf eine unerträgliche Weise, wenn die Kinder barfuß, oder die Füße in Lappen gewickelt, durch die Straßen liefen, und das bei Wind und Wetter. Das Wort „begriffsstutzig“ gefiel ihr gut, wo dann der Apostel von der Liebe spricht, die aufbaut, während das Wissen nur aufbläht. Luise Agnes merkte sich das Wort, um nach der Lesung ihren Mann zu fragen, ob das Wort „verstockt“ nicht doch stärker wäre. Das Bild, wie der Apostel um das Monument des Glaubens herum schreitet und mit dem Finger nach oben zu dem einen Gott zeigt, von dem alle Dinge sind, fand sie anschaulich und einprägsam. Die selbstkritische Frage, ob einer die Größe und Tragweite der Tat mit dem Kreuzestod ermessen könne, berührte sie tief. Denn sie wusste um das Ringen mit dem Glauben ihres Mannes. Als dann der Satz kam, dass er um die Erkenntnis, die man nicht erringen kann, bete, bekam sie doch feuchte Augen. „Großartig!“, das einzige Wort, das sie zwischendrin sprach, kam, als gesagt wird, dass dem Menschen die Erkenntnis geschenkt werden muss, wenn nur das Herz sauber und bereit ist, sie zu empfangen. Das mit dem Du und der Befreiung aus den Ketten der Ichbezogenheit sprach ihr aus dem Herzen. Das Ende der Predigt empfand sie wie die Kuppel der Kathedrale, in die das Sonnenlicht fiel, aus der sich der Friede über die Häupter senkte.

      Eckhard Hieronymus Dorfbrunner hatte den Text seiner Jungfernpredigt seiner jungen Frau am Abendbrottisch vorgelesen. Er schaute auf die geschriebenen Bögen, die er in der Hand hielt, herab und schwieg. „Du bist ein starker Prediger“, sagte Luise Agnes, „deine Worte gehen unter die Haut, sie rütteln auf, machen Feuer an den Nerven; du entzündest die Lunte, die zum Herzen geht. Großartig, wie Du das 8. Kapitel aus dem 1. Korintherbrief auslegst. Der Apostel Paulus hätte seine Freude an dir.“ „Das ist maßlos übertrieben“, wehrte ihr Mann ab, „an die Wortgewalt des großen Apostels komme ich doch nicht heran. Ich bin doch ein kleines Licht gegenüber diesem Feuerriesen.“ „Du bist maßlos in der Untertreibung“, widersetzte sich Luise Agnes, „inhaltlich hast Du gesagt, was zu sagen ist; deine Sprache ist für jedermann verständlich und bildlich dazu. Ich habe die Gesichter vor mir gesehen, denen Du die Maske der Scheinheiligkeit und Unbekümmertheit runtergezogen hast; auch deine Worte haben ins Fleisch der Falschheit geschnitten. Was erwartest Du mehr von einer Predigt?“ „Du sprichst die Gesichter an, denen die Masken runtergezogen wurden. Glaubst Du nicht, dass der Konsistorialrat an der Demaskierung der Gesichter Anstoß nimmt?“ Luise Agnes dachte nicht lange nach, als sie sagte, dass der Wahrheit die höchste Priorität zu geben sei. Da kannst Du von der Falschheit sprechen, die bei so vielen auf den Gesichtern abzulesen ist. Wenn daran der Herr Konsistorialrat Braunfelder Anstoß nimmt, dann ist das seine ganze persönliche Sache. Denn an Eitelkeiten darf sich der Prediger weder aufhalten noch stören lassen, denn schließlich geht es um das Wort, hier um das Pauluswort im 1. Korintherbrief.“ Eckhard Hieronymus sah seine Frau mit großen Augen an. „Du entpuppst dich ja als eine Kämpferin; ich finde das großartig. Ich glaube, dein Kämpfertum würde dem Apostel Paulus sicherlich mehr gefallen als der Text meiner Predigt.“ „Nun übertreibst Du, denn auch deine Worte sind an Klarheit und Schärfe nicht zu überbieten. Und das darf ich dir sagen, dass der, der das Wort Gottes in den Mund nimmt, vor nichts und niemanden Angst haben soll. Denn er braucht den Mut, die Dinge wieder ins Lot zu setzen. Das ist Aufgabe genug.“ „Du würdest also mit dem Text übereinstimmen“, sagte er mit einem fragenden Blick. „Voll und ganz! Besser und kürzer wären die Probleme nicht aufzuzeigen; die Schlichtheit der Antwort ging unter die Haut. Der letzte Satz, dass wir zur Demut zurückkehren und den Herrn um seine Gnade bitten sollen, wird die Herzen bewegen.“ Mit dieser Feststellung seiner Frau gab sich Eckhard Hieronymus zufrieden. Er aß das Abendbrot mit Erleichterung zu Ende; Luise Agnes goss ihm die zweite Tasse Tee ein und rührte den Zucker im hellen Porzellanklang der Tasse um.

      So ging ein Tag zu Ende, der im Zeichen der schrecklichen Erkenntnis des verlorenen Weltkrieges mit all seinen Opfern, den unübersehbaren, fürchterlichen Folgen und im Pauluswort des 8. Kapitels des 1. Korintherbriefes stand. Eckhard Hieronymus hatte seine Predigt zu Papier gebracht, und Luise Agnes hatte dem Text ihre Zustimmung gegeben. Der Tag klang aus mit dem 1. Brandenburgischen Konzert auf dem Plattenteller, bei dessen Wiedergabe die Nadel des Tonarms in regelmäßigen Abständen in den Rillen quietschte. Die weiße Wolldecke, die dem Nachwuchs galt, war fast fertig; da hatte Luise Agnes ihre Geschicklichkeit bewiesen, die bei der Häkelarbeit oft an das Kind und die Welt dachte, in die es wohl hinein geboren würde. Eckhard Hieronymus blätterte während des Zuhörens im Schlesischen Anzeiger und las die ersten Seiten mit den Artikeln über die Streitereien im preußischen Landtag und die politischen Veränderungen im Lande mit dem Linksrutsch in der Parteienlandschaft, aus der die Stimmen zur Abdankung des Kaisers und der Bildung einer Republik immer lauter wurden. Auch las er mit Gründlichkeit die Todesanzeigen, wie er es von jeher tat. Da füllten sich die Spalten mehr und mehr; es waren vorwiegend die Männer im jungen Alter, jene die auf den Schlachtfeldern geblieben waren, denen nun das ehrende Andenken galt mit dem abschließenden „Ruhe in Frieden!“ Die Namen, die dem Verblichenen den Frieden wünschten, waren aufgrund der jungen Jahre, in denen das Leben so plötzlich zu Ende ging, die Eltern mit den noch verbliebenen Kindern. „Da gibt es viel zu tun“, und er dachte bei der Vielzahl der Anzeigen an die Beerdigungen, die der geistlichen Begleitung mit den Worten der Erlösung und dem gemeinsamen Gebet über dem weiß und merkwürdig anders, weil so jenseitsfriedlich und jenseitssprachlos im Sarg Liegenden [man hörte nicht den leisesten Ruf nach der Mutter, nicht einen Namensruf; man hörte kein Klopfen gegen den Sargdeckel: „wartet, es ist noch nicht soweit!“], und definitiv Diesseitsverstummten vor der Grabzuschüttung bedurften, sondern auch an die wachsende Zahl der Hinterbliebenen in ihrer Ratlosigkeit und Verzweiflung, um die sich seelsorgerisch gekümmert werden musste. Nun war es so, dass die meisten der jungen Männer an der Front des unnatürlichen Todes gestorben waren, die aufgrund der Vielzahl und der Schwere der Verstümmelungen gar nicht mehr zu identifizieren waren. Ihnen wurde, wie es in Kriegen nach dem Abschlachten von Menschen üblich ist, das Massenbegräbnis ohne Sarg und ohne geistliche Begleitung zuteil. Deshalb war bei der Vielzahl der Anzeigen in der Donnerstagsausgabe des Schlesischen Anzeigers nicht mit der entsprechenden Zunahme geistlich zu begleitender Beerdigungen auf dem städtischen Friedhof, der

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