Gleise der Erinnerung. Helmut Lauschke

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Gleise der Erinnerung - Helmut Lauschke

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Atem trägt den Apfelhauch. Dein Kuss ist’s, der sich auf die Lippen drückt, köstlich schmeckt wie vollmundiger Wein.

      Ich höre den Brotlaut des gefallenen Jungen vom Brot,

      das ihm die Mutter buk und in den Tornister steckte.

      Ich glaube, das Wort ‘Leben’ gehört zu haben, es klingt im Ohr, ohne das Fluchtziel zu erkennen.

      Die Laute, die ausgefragten und heraus geschlagenen schwirren durch die Luft. Sie echoen von den Hängen zurück.

      Doch dann zerflusen sie in und zwischen die Brisen hindurch. Ein Kranichpaar durchfliegt sie mit wenigen Flügelschlägen und stumm.

      Das und noch vieles mehr, bevor sich der Feuerball versenkt.

      Das ist doch der Kinderarzt Dr. Weynbrand

      Es war bekannt, dass jüdische Professoren von ihren Lehrstühlen vertrieben, jüdische Richter aus den Gerichten verwiesen wurden, ihnen die Ausübung der Berufe unter Strafandrohung verboten wurde. Die Praxen jüdischer Anwälte und Ärzte wurden geschlossen, wenn sie nicht vorher von arischen Kollegen übernommen worden waren. Viele der jüdischen Wissenschaftler, Ärzte, Architekten und Künstler waren ins Ausland emigriert zu einer Zeit, als die Emigration noch möglich war. Doch das hatte sich bald zum Entsetzen der Juden geändert, für die die deutsche Reichsgrenze hermetisch abgeriegelt war. Für sie gab es keine Ausreiseerlaubnis. Der Fluchtweg unter Einsatz des Lebens und Zurücklassung des Eigentums war ihnen abgeschnitten. Für sie waren ganz andere Maßnahmen vorgesehen.

      Das Stadtbild hatte sich seit der Reichskristallnacht drastisch und nachhaltig zum grausamen Erschrecken verändert. Die zerschlagenen Schaufenster wurden verbrettert und mit dem Judenstern oder dem Wort “Jude” beschmiert. Erst mit der Übernahme durch einen Arier bekamen die Fenster neue Scheiben. Die Synagoge verblieb im geschändeten Zustand und bot das Dauerbild trauriger Verwahrlosung. Den Juden war das Abhalten des Gottesdienstes untersagt. Die antisemitischen Gesetze und Erlasse betrafen alle Familien. Es musste der arische Nachweis von denen erbracht werden, die als Beamte im Staatsdienst standen. Dazu zählten Professoren, Lehrer, Busfahrer, wie auch die Priester und Pastöre. Gab es bei den Vorfahren jüdisches Blut, dann halbierte sich der jüdische Blutanteil von Generation zu Generation, vorausgesetzt, dass in den Folgegenerationen keine jüdische Auffrischung erfolgte. So war jemand ein Vierteljude, wenn Großvater ein Jude oder Großmutter eine Jüdin war. Für den Vierteljuden gab es im Staatsdienst keine Anstellung.

      Auch wenn Eckhard Hieronymus arisch “rein” war, so war seine Frau, Luise Agnes, eine Halbjüdin, weil ihre Mutter, Elisabeth Hartmann, eine getaufte Jüdin war, die mit dem Mädchennamen Sara Elisa Kornblum hieß. An der Seite ihres Mannes, dem Pastor Eduard Hartmann, seit fünf Jahren im Ruhestand, war sie eine treue Ehefrau, eine gute Mutter, Großmutter und Christin, die den Gottesdienst regelmäßig besuchte und das Leben und Werk des Apostels Paulus bewunderte. Eckhard Hieronymus nahm den Nachweis mit der arischen Asymptote ernst.

      Bei der Militanz und den antisemitischen Ausschreitungen bereitete ihm diese Anordnung Kopfzerbrechen in Bezug auf seine Frau und seine Kinder. Er beschrieb diesen Nachweis Luise Agnes gegenüber als die arische Asymptote und das geforderte Muss als eine eklatante Verletzung menschlicher Grundwerte und Grundrechte, weil in dieser Anordnung die Beschneidung der Freiheit des Menschen in seiner persönlichen Entscheidung liege. Er nannte sie die gemeine Angelrute des gestiefelten Deutschen oder das gefährliche Netz des deutschen Pickels. Wussten doch beide von Fällen behördlicher Einmischung in das familiäre Leben, wo dem arischen Mann, wenn er seine berufliche Stellung behalten wolle, angeraten wurde, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen.

      Nun war Luise Agnes nur eine Halbjüdin, und das arische “Defizit” war ihrem Gesicht, der feinen Nase mit dem leicht gebogenen Nasensteg, dem gekräuselten dunklen Haar und den tiefbraunen Augen anzusehen. Eckhard Hieronymus machte sich deshalb Sorgen um die Familie, weil er es bei dem Rassenwahn nur für eine Frage der Zeit hielt, dass er von Braunhemden oder den Gestapoleuten in den schwarzen Ledermänteln besucht würde, um ihn auf die beruflichen Konsequenzen hinzuweisen, deren Ursache das Zusammenleben mit einer Halbjüdin als Ehefrau ist.

      Doch trennen wollte er sich von Luise Agnes nicht, die er über alles liebte, die eine so liebevolle Mutter der gemeinsamen Kinder Anna Friederike und Paul Gerhard war. Sorgen machte er sich auch um seine Kinder, wenn sie von ihren Schulkameraden auf die arischen Nachweise angesprochen würden, was sie bislang noch nicht wurden. Anna Friederike besuchte das Ursulinengymnasium, war in der Oberprima und zählte zu den Besten. Paul Gerhard ging zum städtischen Humboldtgymnasium und war in der Obersekunda beim besseren Durchschnitt. Beide waren groß gewachsen und hatten die mütterlichen Gesichtszüge, Paul Gerhard das dunkle gekräuselte Haar dazu. So war es auch für sie eine Frage der Zeit, auf ihre Herkunft angesprochen zu werden, besonders dann, wenn Dinge wie Missgunst und Neid bei den Mitschülern aufkamen, denn die Dorfbrunners waren nicht nur aufgeweckt und intelligent, sondern auch gut aussehende junge Menschen.

      Die Schikanen mehrten sich: Juden hatten den gelben Judenstern auf den Straßen zu tragen. Ihnen war der Besuch von Konzerten, Theatern und öffentlicher Versammlungen sowie öffentlicher Toiletten untersagt. Arische Bürger hatten alles Jüdische zu meiden. Sie durften sich nicht auf offener Straße mit ihnen unterhalten, sie weder in ihre Häuser einladen noch von ihnen eingeladen werden. Den Juden wurden die privaten Fahrzeuge mit Wagenpapieren und Führerschein abgenommen. Sie wurden Fußgänger, die vom Bürgersteig wegtraten, wenn ein Deutscher in Uniform entgegenkam, egal ob es ein alter, gehbehinderter Mann am Krückstock oder eine Mutter mit ihren Kindern war, die an beiden Händen schwere Taschen trug.

      Es war ein trauriger Anblick, wenn Eckhard Hieronymus mit Frau und Kindern oder allein durch die Straßen ging, in die Augen der Angst und Verzweiflung jener Menschen mit den blassen, verhärmten Gesichtern und dem gelben Stern über ihrer Brust sah. Er sah Kinderaugen von unbeschreiblicher Traurigkeit, die ihm das Herz zerrissen, weil er nicht aufschreien konnte, wie er hätte aufschreien sollen. Hinzu kamen die Fragen der Kinder, wenn sie aus der Stadt zurückgekehrt waren, die immer bohrender wurden. Sie waren so berechtigt, wie das Abschweifen im Antwortgeben oder das stumme Achselzucken unberechtigt waren.

      Es war die Zeit der fürchterlichen Erkenntnis, dass es in Deutschland nach dem ersten Krieg, wo sich die Menschen nach dem inneren und äusseren Frieden sehnten, so etwas gab, dass es Menschen gab, denen die fundamentalen Menschenrechte abgesprochen wurden, nur weil sie Juden waren. Als ob das ein kriminelles Vergehen war. Der gestiefelte Deutsche in Uniform hatte sich zu einem gefürchteten Monster ausgewachsen. Dieses Monster hatte sich von den Maßstäben der deutschen Kultur weit entfernt; es wurde von den arischen Mitbürgern, die den Mut noch hatten, den Verstand zu gebrauchen, zutiefst abgelehnt. Auch sie fürchteten sich vor seiner barbarischen Brutalität, weil sie von Monat zu Monat unsicherer wurden, dass auch sie eines Tages von ihm ergriffen würden.

      Was sie auf den Straßen sahen und hinter verschlossenen Türen hörten, war entsetzlich. Gute Menschen und bewährte Freunde, die den Beweis erbracht hatten, ein Freund und Helfer in der Not zu sein, gingen nun mit dem Judenstern, wurden bespuckt und misshandelt, und man durfte ihnen nicht helfen. Das System entschied über wertes und unwertes Leben. Menschen, vor allem Kinder, die wegen geistiger Behinderungen in Heimen zusammengefasst wurden, bekamen im Rahmen des Euthanasieprogramms die tödliche Injektion. Geisteskranke in Sanatorien und psychiatrischen Abteilungen, denen die Unheilbarkeit testiert wurde, wurden auf die gleiche Weise “erledigt”. Die euthanasische Tötungsmaschine kam erst unter dem Druck der immer stärker gewordenen Proteste vonseiten der Kirchen zum Stillstand.

      Es war an einem Mittwochmorgen. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner war auf dem Wege zum Domkapitel, wo ihn Bischof Rothmann für elf Uhr zu einem Gespräch gebeten

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