Gleise der Erinnerung. Helmut Lauschke

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Gleise der Erinnerung - Helmut Lauschke

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und Mäntel überzogen, wenn sie sich zu Gesprächen oder Lesungen trafen oder sich zu den Mahlzeiten an die Tische setzten.

      Die kleine Turmglocke hatte den Schlag getan, der das Ende der ersten Hälfte der elften Stunde angab, als Eckhard Hieronymus über den Platz ging. Er sah einen älteren Herrn im schwarzen Mantel auf sich zukommen, der den Davidstern links in Höhe des obersten Mantelknopfes trug. Der Gang war schwer, fast schlürfend, das Gesicht blass, von Falten durchzogen mit schlaffen Tänensäcken unter den Augen. Der Herr sah zu Boden, kurz bevor sie im Abstand von gut drei Metern aneinander vorübergingen. Eckhard Hieronymus, dem der Herr mit dem Tragenmüssen des Judensterns so leid tat, dass er Gott um Vergebung dieser deutschen Schande bat, war sich beim Anblick des vertrauerten Gesichtes nicht klar, ob es Dr. Weynbrand war, der Kinderarzt, der seine beiden Kinder, einmal beim Scharlach von Anna Friederike und das andere Mal bei Gräserallergie mit asthmatischen Anfällen von Paul Gerhard, erfolgreich behandelt hatte.

      Als sie auf einer Linie waren, der eine in die eine Richtung, der andere in die entgegengesetzte Richtung ging, grüßte Eckhard Hieronymus den älteren Herrn, der mit dem Blick zum Boden zurückgrüßte. An der weichen Stimme, die aufgrund der diskriminierenden Ereignisse angebrochen war, erkannte er den Kinderarzt Dr. Weynbrand wieder. Sie sahen einander ins Gesicht und gaben sich die Hand, wissend, dass sie verbotene Dinge taten. “Ïch freue mich, dass wir uns noch einmal sehen”, begann Eckhard Hieronymus, worauf Dr. Weynbrand erwiderte, dass es wohl das letzte Mal sein werde. “Wie meinen Sie das?”, fragte Eckhard Hieronymus. “Wir haben die Mitteilung bekommen, dass wir unsere Sachen packen sollen und uns in fünf Tagen auf dem Bahnhofsplatz einzufinden haben. Von dort werden wir mit unseren Kindern und Kindeskindern abtransportiert. Wohin wir gebracht werden, genau wissen wir es nicht. Doch haben wir alle ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Man wird uns wohl mit Stumpf und Stiel ausrotten.”

      Eckhard Hieronymus war fassungslos. Er versuchte ein passendes Wort zu finden und fand es nicht. Verquert und unpassend, er wusste es wohl, das Gefühl der Übelkeit stieg in ihm auf, als er dem Kinderarzt in das alt gewordene, sorgenzerfurchte Gesicht mit den trüben dunklen Augen sah: “Soll das heißen, dass Sie und die andern jüdischen Mitbürger Breslau verlassen?” “Ja, das heißt es; wir können uns hier nur noch verabschieden. Mehr können wir füreinander nicht mehr tun.” Dr. Weynbrand wunderte sich über das erstaunte Verhalten von Superintendent Dorfbrunner. Da gab er noch ein wenig Nachhilfe zur letzten Orientierung, wie weit es mit den Juden gekommen ist: “Bekommen Sie denn nicht mit, dass seit Wochen die Juden aus allen Ecken Schlesiens und wahrscheinlich aus dem ganzen Reich zusammengetrieben und in verschlossenen Güterwaggons nach Osten transportiert werden. Es wird wohl das besetzte Polen sein, wo wir hingebracht und den Gerüchten zufolge in irgendwelche Lager gestopft und zu Tode behandelt werden.”

      Eckhard Hieronymus befiel die Scham. Er schaute herunter auf die abgelaufenen Schuhe mit den ungleichfarbigen Schnürsenkeln des früher stets makellos gekleideten Kinderarztes, den die Kinder liebten, weil er immer lustig war, einen Scherz für sie auf Lager hatte und ihnen Süßigkeiten gab, als diese in den Geschäften nicht mehr zu kaufen waren. “Das tut mir sehr leid, Dr. Weynbrand, was Sie da sagen. Es ist für mich unfassbar.” “Für mich ist es auch schwer vorstellbar, dass Menschen mit Kultur so etwas fertigbringen. Was für mich dabei so schmerzhaft ist, ist die Tatsache, dass die Menschen, die davon wissen, sich in Schweigen hüllen und es geschehen lassen, als wäre das in Ordnung. Ich darf ihnen sagen, dass Sie der Erste sind, der mich als Jude mit dem gelben Stern grüßt. Dafür danke ich ihnen. Die vielen Männer und Frauen, die über viele Jahre mit ihren Kindern in die Praxis kamen, gehen an mir vorüber, als würden sie mich nicht kennen. Dabei gab es schwerkranke Kinder unter ihnen, denen ich mit viel Mühe das Leben rettete.”

      “Das tut mir alles so leid”, wiederholte sich Eckhard Hieronymus, weil er das Ausmaß der Tragödie zu ahnen begann und sich scheute, es in Worte zu fassen, was sich düster in seinem Kopf zusammenballte. “Herr Dorfbrunner”, fügte Dr. Weynbrand hinzu, “was für mich unbegreiflich ist, ist die Konsequenz, dass sich die Deutschen mit einer Schuld beladen, an denen viele Generationen noch zu tragen haben. Denn, wenn die Achtung vor dem Leben verloren geht, dann geht auch die Selbstachtung verloren, die nur solange da ist, wie der Mensch die Schöpfung mit der gehörigen Portion Gottesfurcht achtet. Da spielt es keine Rolle, ob jemand ein Christ ist oder nicht. Sie tun mir leid, wenn Sie den Menschen die Nächstenliebe predigen und zugleich wissen, dass die Menschen wegblicken und schweigen, was mit uns Juden passiert. Und das wissen Sie so gut, wie ich es weiß , dass wir Juden für Deutschland gearbeitet, gekämpft, gelitten und geopfert haben, so wie es alle Deutschen taten. Wir haben die deutsche Sprache und Kultur geliebt, haben unseren Beitrag zur deutschen Kultur geleistet, die in der Welt mit an der Spitze steht. Warum das nun mit uns passieren muss, bleibt eine unermessliche Tragik, die erst in ferner Zukunft, wenn überhaupt, begriffen werden wird. Denn das Opfer, das wir Juden für Deutschland zu bringen haben und bringen werden, das auch unser Deutschland war, ist so beispiellos, wie die Forderung nach einem solchen Opfer und das im höchsten Maße grausame System, wie wir umzubringen sind, beispiellos in der Geschichte der Menschheit ist.”

      Eckhard Hieronymus schwieg, spürte, wie die Worte hammerschlagartig auf das Hirn einschlugen, hob seinen Blick von den abgelaufenen Schuhen mit den ungleichfarbigen Schnürsenkeln langsam nach oben, fuhr die Mantelknöpfe von unten nach oben ab, sah auf den gelben Judenstern und schließlich in das blasse, sorgenzerknitterte Gesicht mit den schlaff herabhängenden Tränensäcken und die von unendlicher Trauer getrübten Augen. Er wiederholte sich abermals (und sollte es unendliche Male später weiter tun), als er mit leiser Stimme sagte: “Das tut mir alles so leid.” Ihm zitterte die Hand, die er dem Kinderarzt zum Abschied reichte, der in fünf Tagen mit so vielen anderen Juden in den Osten zur “Judenlösung” abtransportiert würde. “Möge Sie Gott segnen und ihnen und den vielen, die mit ihnen gehen, in der größten Not beistehen. Ich werde für Sie beten”, nach einer Pause, das Unbegreifliche zu begreifen, was er nicht begreifen konnte, sagte er weiter: “beten werde ich für Sie mein ganzes Leben lang.”

      Dr. Weynbrand bedankte sich für diese Worte, und während sie sich die Hände gaben, wobei Eckhard Hieronymus die Magerkeit der anderen Hand in seiner fühlte und auf sich als unbeschreibliches Mahnmal einwirken ließ. Da schloss der Kinderarzt die letzte Begegnung mit den Davidversen aus dem 56. Psalm: “Ich will Gottes Wort rühmen, rühmen will ich des Herren Wort. Auf Gott hoffe ich und fürchte mich vor den Menschen nicht, denn sie können meiner Seele nichts tun.” Dafür bedankte sich Eckhard Hieronymus. Er verneigte sich vor dem Kinderarzt, der ihm, weil er etwas kürzer war, schräg nach oben ins Gesicht sah. Sie lösten die Hände und gingen auseinander, der eine in eine ungewisse Zukunft voller Schrecken, der andere in die Gewissheit des Todes.

      Eckhard Hieronymus hatte sich um einige Minuten verspätet. Bischof Rothmann wartete auf ihn. Er saß hinter seinem Schreibtisch, als Eckhard Hieronymus an die Tür klopfte und nach dem “Herein!” den großen Raum betrat. Der Bischof war alt, sein Gesicht schmal geworden, das von Sorgenfalten durchzogen war. Er stand nicht mehr weit vor der Pensionierung. Er erhob sich und begrüßte Eckhard Hieronymus in einer herzlichen Weise, wie er es immer tat, wenn sie zusammen kamen. “Setzen wir uns wieder in die Ecke!”, sagte er mit leicht erregter Stimme und wies auf den niedrigen Klubtisch mit den vier Polsterstühlen hin, die auf der anderen Seite des Raumes, dem Schreibtisch gegenüber, standen.

      Der Bischof sah Eckhard Hieronymus länger als sonst an, weil ihm die innere Unruhe auffiel, in der sich Superintendent Dorfbrunner befand beziehungsweise bewegte. “Geht es ihnen nicht gut, lieber Kollege Dorfbrunner?”, fragte er nach einer Weile des anschauenden Schweigens. Eckhard Hieronymus sah auf seine Hände, die auf den Schenkeln ruhten, und bemerkte das feine Zittern der Finger, das er nicht unter Kontrolle brachte. “Herr Bischof”, antwortete er auf die Frage, “ich muss mich entschuldigen”, der Bischof unterbrach ihn, “Sie brauchen sich doch nicht entschuldigen, lieber Kollege!” “Doch für meine Aufregung muss ich mich entschuldigen, weil sie hier fehl am Platz ist, wenn Sie mit mir sprechen wollen.” Der Bischof sah ihn fragend mit einem milden Lächeln an, um Eckhard Hieronymus zu beruhigen, ihn innerlich zu

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