Auf getrennten Wegen. Christian Linberg
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1 - 2 Fell und Hörner -
Ein stechender Schmerz im Nacken war es schließlich, der sie aus ihrem Dämmerzustand riss.
Vorsichtig tastete sie nach der schmerzenden Stelle. Es war nichts gebrochen oder gerissen, sie hatte nur ziemlich lange in einer äußerst unbequemen Pose gelegen. Möglicherweise wären auch ernstere Schäden entstanden, aber Anaya war eine Aliana, eine Tochter der Waldgeister von Galladorn, die ihr eine wandelbare Gestalt verliehen. Sie konnte ihre Gliedmaßen verlängern und verkürzen, ihre Haut mit Rinde überziehen, sich die Sinne von Tieren leihen und auch die Natur um sich herum manipulieren oder um Hilfe bitten.
Daher war die Lage nur unbequem, nicht gefährlich.
Zwischen ihren Füßen hindurch konnte sie die Sterne sehen.
Es war tiefste Nacht, als sie endlich halbwegs wach war. Wie sie feststellte, hatte sich ihr Geweih bei der Landung in einem Dornenbusch verheddert, während ihre Füße in einem Ast festhingen. Daher kam ihre unbequeme Position.
Jeder Alian wählte seine erste Erscheinungsform bei der Initiation in einen Druidenzirkel selbst.
Viele hatten ein Geweih oder Hörner, wenn auch meist kleiner als ihres, oft trugen sie Fell oder Federn, manche hatten sogar Flügel. Hufe und Klauen waren dagegen annähernd zu gleichen Teilen vorhanden.
Es dauerte länger als gewöhnlich, die Konzentration aufzubringen, die sie benötigte, um eine Veränderung herbei zu führen.
Schließlich gelang es ihr. Von ihrem Geweih waren nur noch zwei kurze, glatte Hörner übrig, die aus ihrer Stirn wuchsen.
Langsam erhob sie sich.
Der Schmerz im Nacken war noch da, ebenso wie eine Reihe Prellungen. Insgesamt waren es keine ernsthaften Verletzungen. Sie nahm Kontakt zu der sie umgebenden Natur auf, indem sie ihre Hände im Schlamm versenkte. Erneut wurde sie beinahe von der Lebenskraft überwältigt, die sie umgab. Mochte das Land noch so verdorben und tot wirken, tatsächlich pulsierte es vor verborgenem Leben.
Rasch schwanden ihre Schmerzen, kurz darauf fühlte sie sich wieder frisch und munter. Sie war nicht übermäßig besorgt, ihre Gefährten waren nicht so leicht umzubringen.
Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatte sie begriffen, dass es nicht die waghalsigen Taten geistig Verwirrter waren, sondern wohl überlegte Handlungen. Sie schienen stets genau zu wissen, was möglich war und was nicht.
Bei Droin und Jiang war das nicht weiter verwunderlich. Der Naurim war alt und erfahren genug zu wissen, was er konnte. Die kleine Shâi war zwar verschlossen, aber auch diszipliniert. Sie durchdachte jeden ihrer Schritte dreimal, bevor sie ihn machte.
Drakkan hingegen…
Sie seufzte. Keine Zeit für sentimentale Gedanken. Ziemlich sicher war sie drei oder vier Meilen weit vom Siegel entfernt. Die Welle – oder besser Ferrn Tarn – hatte sie alle von dort herunter gefegt. Die Präsenz des Arkanisten von Narfahel war überdeutlich gewesen.
Er beschützte sein Land noch immer. Der Wahnsinn in seiner Stimme hatte ihre Sinne überflutet und ihr das Bewusstsein geraubt.
Zunächst sah sie sich daher gründlich um. Seine Präsenz mochte noch immer in der Nähe sein.
In ihrer unmittelbaren Umgebung waren nur Büsche und schlammiger Grund. Kein einziger Blutbaum wankte in der Nähe umher. Es war eisig kalt, wie sie jetzt erst bemerkte. Ihre Kleidung war durchnässt und sie zitterte. Wieder versenkte sie die Hände im Schlamm. Sie erinnerte sich an das warme Fell eines Höhlenbären, mit dem sie früher einmal einen Bau geteilt hatte. Sie spürte, wie sich ein zarter Flaum auf ihrer Haut bildete, dann sprossen einzelne Haare. Immer mehr und immer dichter wurden sie, bis Anaya von zottigem Fell bedeckt war.
Fast sofort verschwand das Gefühl von Nässe und Kälte. Zufrieden schritt sie den nächsten, kleineren Hügel in Richtung Stadt hinauf.
1 - 3 Eine Mahlzeit -
Ein scharfer Schmerz bohrt sich in ihren Knöchel. Ein Ruck zerrte an ihr, der sie aus dem Nichts ihrer Ohnmacht befreite.
Mühsam versuchte sie, die Augen zu öffnen. Sie hatte nur bei einem Erfolg. Das andere wurde von irgendwas blockiert.
Schlamm.
Das war alles, was sie zunächst sah. Dann gab es wieder einen plötzlichen Ruck an ihrem Bein.
Die Schmerzen, die durch ihren Körper schossen, weckten sie vollends auf. Sie hing kopfüber in der Luft, in der Krone eines Baumes. Langsam hob sie den Blick vom Boden, gerade rechtzeitig, um das riesige Maul vor sich zu entdecken, das sich soeben im Stamm auftat. Eine zähe Ranke zerrte sie Stück für Stück darauf zu.
Drei Reihen Zähne schnappten gierig nach ihr und eine schleimige Zunge züngelte sabbernd dazwischen nach ihr, wie ein Blutegel, der Witterung aufgenommen hatte.
Andere Ranken griffen bereits nach ihren Armen. In wenigen Augenblicken würde sie vollständig darin gefangen sein.
Sie versuchte, das Feuer in ihrem Inneren zu erwecken, doch wie bei nassem Holz wollte der zündende Funke nicht so recht Halt finden. Da erst bemerkte sie, dass sie vor eiskaltem Wasser nur so triefte. Schlamm verklebte ihre Haare und zog ihre Kleidung nach unten. Blitzschnell wurde ihr klar, dass sie der Blutbaum nur deshalb noch nicht verschlungen hatte, weil er Probleme mit ihrem Gewicht hatte. Sie zappelte so gut sie konnte, um es den Ranken schwerer zu machen, sie zu erreichen. Es funktionierte.
Dabei kam sie nur dem Maul immer näher. Die Zunge konnte sie beinahe berühren. Aufgeregt sabberte das Maul im Angesicht der nahen Beute. Der Atem stank nach verwesendem Fleisch und verdorbenem Blut.
Panisch versuchte sie wieder, sich in Flammen zu hüllen, doch die Kälte der Sachen, die sie trug, verhinderte, dass es ihr gelang.
Wieder zog die Ranke um ihr Fußgelenk sie näher zum Ziel. Die pinkfarbene Zunge leckte ihr einmal durch das ganze Gesicht, als ihre zappelnden Bewegungen sie kurz zu nahe heran brachten. Die übrigen Äste und Ranken bogen sich nach innen, um ihr den Bewegungsspielraum zu nehmen. Ein erregtes Zischen entwich dem Maul der Kreatur. Phyria musste darum kämpfen, sich nicht zu übergeben, während ihr der klebrige Speichel langsam über die Wange rann.
Ihre Gedanken rasten, was war zu tun? Sie musste überleben. Sechs Siegel warteten noch auf sie. Versagen war keine Option. Gefressen werden erst recht nicht. Sie hatte die Dämonen überlebt, die ihre Heimat verwüstet hatten.
Verglichen damit war das hier nichts. Sie erinnerte sich an den Tag des Überfalls auf das Kloster, an die Schafe, an die schwarz gekleideten Soldaten…
„Nein.“
Sie schlug ihre Augen auf und blickte ruhig genau in das Maul des Blutbaumes. Eine blaue, beinahe weiße Flamme schoss aus ihren Händen genau hinein. Die Hitze war so gewaltig, dass die Kreatur praktisch explodierte. Gekocht von den eigenen Säften brach die Borke auseinander. Kleine Flammen züngelten aus den Rissen, die Äste und Ranken verkohlten so schnell, dass sie noch in der Luft hing, als eine riesige Stichflamme oben aus der Krone hervorbrach und die gesamte Kreatur einhüllte.
Phyria wurde fallengelassen, weil die Ranke, die sie festgehalten hatte, vom Rumpf abgerissen wurde. Noch bevor sie auf dem Boden