Todesvoting. Karin Szivatz
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Sie bleibt stehen, achtet weder auf den Einkaufswagen auf dem Weg noch auf ihre volle Einkaufstasche, die ihr vom Ellbogen gleitet und auf den Gehweg fällt. Der Joghurtbecher platzt im Inneren auf, doch auch das registriert sie noch nicht. Sie sieht nur, dass sich der Lieferwagen im gemäßigten Tempo von ihr entfernt und auf den Kreisverkehr zuhält.
Da beginnt sie zu schreien, rudert mit den Armen und muss sich am Zaun festhalten, um nicht umzukippen. „Hilfe! Entführung! Ruft die Polizei! Himmel, da wird gerade ein Mann entführt! So helft ihm doch!“
Eine junge Frau schießt mit ihrem Kinderwagen aus dem Spielplatz heraus direkt auf die alte Dame zu. Sie hat bereits ihr Handy gezückt und den Notruf gewählt.
„Sind sie sicher?“, fragt sie hektisch und viel zu laut. Die zitternde Dame am Gartenzaun nickt heftig. „Ja, aber ja doch!“, ruft sie aus. Das Adrenalin pumpt beinahe pur in ihren Adern und lässt sie heftig keuchen.
Innerhalb nur weniger Sekunden strömen Menschenmassen aus den Kaufhäusern, den Wohnungen und dem Bürogebäude, um die Entführung live mit zu erleben. Doch sie kommen genauso zu spät wie die alarmierte Polizei. Sie sehen nur noch die ältere Dame, die jemand auf den umgedrehten Einkaufswagen gesetzt hat, damit sie nicht umkippt. Ein junger Mann mit langer Schürze trabt mit einem Glas zuckerhältigen Limonade aus der Bar und reicht es ihr. „Das wird Ihnen guttun. Trinken Sie!“, forderte er die Dame auf und sie setzte ihre faltigen, leicht zitternden Lippen an den Rand des Glases.
Kurz danach ist der Tatort abgesperrt, die Spurensicherung verständigt und die Dame auf dem Weg zum örtlichen Polizeirevier. Die Schaulustigen werden gebeten, sich zu melden, wenn sie irgendetwas gesehen oder gehört haben oder wieder zu gehen, wenn sie keinen Beitrag zur Klärung des Falls leisten können. Wenige Stunden später ist der Tatort wieder ein ganz normaler Gehweg neben einer ganz normalen Straße und einem ganz normalen Zaun. Nur das Leben des entführten Mannes hat sich soeben schlagartig geändert.
7
Rodrigo lenkte den Dienstwagen auf den Parkplatz vor dem Dezernat und ärgerte sich, weil er wieder in der letzten Reihe parken musste. All die anderen Parkplätze waren bereits besetzt und er hatte trotz mehrerer Ansuchen bislang noch keinen personalisierten ergattert. Der oberste Boss meinte bei meiner letzten Anfrage lachend, dass er sich durch den täglichen Fußmarsch von gut zwölf Metern bis zum Polizeirevier fit halten könne; er solle es doch positiv sehen! Rodrigo betrieb Sport, ja, natürlich. Er lief zweimal die Woche rund eine ganze Stunde, spielte zweimal im Monat eine Stunde Squash und er schwamm zumindest einmal pro Woche eine Stunde. Auf diese Weise hielt er sich zumindest so fit, dass er einem Flüchtigen gut folgen konnte. Es sei denn, derjenige war ein junger Sprinter, was aber ohnehin sehr selten vorkam. Die meisten Entführer und Einbrecher waren nicht sonderlich gut zu Fuß unterwegs und kämpften meist schon nach wenigen hundert Metern mit der Luft und Seitenstechen. Deshalb sagte Rodrigo immer scherzhaft, dass man die sportlichen Verdächtigen eher hintanstellen könne.
Als er seinen Fuß auf die erste Stufe stellte, klingelte sein Handy und gleichzeitig rief jemand aus dem ersten Stock beim Fenster hinaus. Es war der oberste Boss, dessen Stimme unverkennbar über den Parkplatz donnerte. „Ein bisschen mehr Einsatz, wenn ich bitten darf! Hopp, hopp!“ Dann lachte er und zog schnell seinen Kopf vom Fenster zurück.
Rodrigo sah Kevin an, verzog sein Gesicht und schüttelte kaum vernehmbar den Kopf. Kevin zuckte die Schultern und betrat hinter ihm das Gebäude. Am Handydisplay erschien die Nummer seines Chefs und ihm wurde klar, was er mit seinem Ruf gerade gemeint hatte. Beeilung, pronto, ràpido! Es musste wirklich dringend sein, also nahmen die beiden Polizisten immer zwei Stufen auf einmal und liefen den Gang entlang bis zum Besprechungszimmer.
Wie erwartet hatten sich dort bereits alle zur Verfügung stehenden Beamten versammelt und sahen Rodrigo erwartungsvoll an. Rasch ließ er seinen Blick durch die Runde schweifen und auf Ralf Penz, dem grauhaarigen Oberboss liegen.
„Wir haben gerade die Meldung über eine weitere Entführung von der Stadtpolizei erhalten. Ein Mann um die vierzig wurde vor einer knappen viertel Stunde in der Nelson-Mandela-Straße 11 in einen weißen Lieferwagen gezerrt. Ganz unspektakulär. Tür auf, Mann rein, Tür zu. Und weg war der Wagen mit einem zusätzlichen und vor allem unfreiwilligen Passagier mehr an Board. Eine Zeugin, die mit ihrem Kinderwagen im Park unterwegs war, hat die Polizei verständig. Dieses Mal gibt mehrere Zeugen und einer von ihnen kennt sogar die entführte Person; zumindest vom Namen her.“
Er ließ seine Worte etwas wirken, sodass jeder auch wirklich begreifen konnte, was geschehen war. Er wusste, dass er seine Leute nicht mit einem gewaltigen Informationsfluss zumüllen durfte, auch wenn er noch Kenntnis von etlichen Details mehr hatte.
Rodrigo stieß hörbar die Luft aus. „Natalie Springer und er haben den gleichen Entführer?“, sagte er mehr als er fragte, denn für ihn lag diese Tatsache eigentlich schon auf der Hand. Ralf Penz nickte. „Es sieht zumindest ganz so aus, im Moment spricht alles dafür. Deshalb bekommst du auch diesen Fall. Ich möchte keine Paralleluntersuchungen von einem anderen Team laufen lassen. Dabei kommt ihr euch nur in die Quere und dass mit dir nicht gut Kirschen essen ist, wenn es um Ermittlungen geht, weiß nicht nur das gesamte Universum, sondern auch noch jede einzelne Gottheit außerhalb.“
Die Truppe lachte und Rodrigo zielte mit seiner zu einer Pistole geformten Hand auf den Oberboss.
Einer der Gründe, weshalb Ralf Penz den großgewachsenen Mexikaner als Abteilungschef eingesetzt hatte, war dessen lockerer Umgang mit den Mitarbeitern. Penz setzte auf einen legeren, lockeren, vertrauensvollen, intensiven Umgang miteinander und dafür war Rodrigo genau der richtige Mann. Eine Frau eignete sich dafür keinesfalls; zumindest kannte er nicht eine einzige legere, lockere Frau. Und falls er jemals eine kennen lernen würde, so gäbe er auf der Stelle sein Junggesellenleben auf.
Rodrigo stand auf und stellte sich vors Whiteboard, auf dem die Daten von Natalie Isabell Springer in roten Lettern prangten.
„Danke, wir werden diesen Fall mit links lösen. Du kannst das andere Team in den Urlaub schicken“, witzelte er, lachte dabei jedoch nicht. Seine Gedanken waren bereits bei der zweiten Entführung.
„Wir wiederholen unsere Arbeit genau so, wie sie der Täter wiederholt hat. Jeder von euch kennt seinen Aufgabenbereich und jeder weiß, dass er auch hier sein Bestes geben muss. Wenn wir den Fall innerhalb einer Woche lösen, gebe ich einen aus.“
Die Kollegen applaudierten, standen währenddessen auf und gesellten sich zu ihren kleinen Einheiten, die sie bereits zur Auffindung von Bell gebildet hatten. Ohne zurückzublicken verließen sie den kleinen Besprechungsraum, denn sie waren schon völlig in ihren neuen Fall vertieft.
Rodrigo war auch schon im Türrahmen, als er eine schwere Hand auf seiner Schulter spürte. Ralf sah ihn aus müden Augen an und seufzte. „Wird das jetzt so weitergehen? Müssen wir uns alle zwei Tage um eine neue Entführung kümmern? Wie siehst du das? Ich habe so etwas von anderen Dezernaten noch nie gehört und auch selbst noch nicht erlebt.“
Rodrigo sah ihm tief in die Augen, als ob er darin die Lösung finden könnte.
„Es tut mir echt leid, aber ich kann derzeit noch gar nichts sagen. Ich fühle zu dem Fall noch nichts, denke noch nicht an übermorgen und spiele auch noch nicht