Erleuchtet. Emmi Ruprecht
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Paralysiert von dieser Erkenntnis stocherte ich in meiner Caipirinha herum, die allerdings nur noch aus Eis und ausgewrungenen Limettenvierteln bestand. War das Leben nicht furchtbar humorlos? Da wollte ich ihm zeigen, wie ernst ich es meinte mit dem Loslassen aller Hoffnungen und der perfekten Desillusionierung, und da zeigte mir die Betrachtung über mein Leben, wie ernst es das meinte mit dem, was es mir bislang zugemutet hatte! Ich war schockiert: Konnte es wirklich sein, dass das alles war, was ich zu erwarten hatte? Auch in den nächsten 39 Jahren?
Mir wurde schwindelig. Ich realisierte, wie schwer es mir fiel, das Eis im Glas zu fixieren. Die Bilder schoben sich ineinander und verschwammen. Plötzlich fielen mir auch noch die Augen zu. War das jetzt das Ende? Just in dem Moment, als ich meiner kläglichen Existenz schonungslos gewahr wurde und mir wirklich keinerlei Illusionen mehr darüber machte, dass irgendwann doch noch alles gut werden und der Traumprinz mit Schloss und einem tollen Jobangebot unter dem Arm auftauchen würde, war es vorbei? Hatte ich die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gefunden und musste nun die Augen schließen, bevor ich diese Erkenntnis jemandem mitteilen konnte? Oder verkraftete mein armes Herz den Erkenntnis-Schock nicht, nachdem es schon so lange auf ein besseres Schicksal gehofft hatte? Hatte vielleicht mein Unterbewusstsein in diesem Moment unendlicher Abgeklärtheit entschieden zu gehen, weil es jetzt wirklich keinen Sinn mehr hatte, weiterzumachen?
Panik stieg in mir hoch. Das ging jetzt alles sehr schnell. Ich war nicht wirklich vorbereitet auf diesen Moment. Ob ich gleich mit dem Glas in der einen und dem Strohhalm in der anderen Hand vom Barhocker kippen würde? Wie schrecklich! Das wäre beschämend unelegant!
Das Glas!
Plötzlich begriff ich. Darin war Caipirinha gewesen! Außerdem war es nicht das erste an diesem Abend gewesen, und wann hatte ich heute eigentlich zum letzten Mal etwas gegessen? Seit dem Mittagessen nichts mehr, und das hieß vermutlich – angesichts der Tatsache, dass ich bei einer Studentenparty vor vielen Jahren schon nach einem halben Glas Caipi nicht mehr mit dem Rad fahren konnte und mindestens eine Stunde für einen Zehn-Minuten-Weg nach Hause gebraucht hatte – dass ich sturzbetrunken war. Einfach nur besoffen – nichts weiter!
Ich atmete erleichtert aus.
Allerdings fiel mir auch just in diesem Moment auf, dass es fast an ein Wunder grenzte, dass ich mich noch auf dem Barhocker halten konnte. Darüber hinaus merkte ich plötzlich, dass dieser Hocker keinen ganz festen Stand auf dem Boden hatte, sondern leicht kippelte.
Haaalt!
Ich ermahnte mich, nicht an so etwas zu denken. Stattdessen befahl ich mir, die Augen nach vorne zu richten und einen Punkt hinter der Bar zu fixieren. Meine Wahl fiel auf eine alte Blechschild-Reklame für Johnnie Walker. Dann tastete ich mit vorsichtigen Bewegungen in meiner Jackett-Innentasche nach meinem Portemonnaie. Ganz sachte! Möglichst souverän versuchte ich auszusehen, als ich die Bedienung hinter dem Tresen heranwinkte und zahlte. Stimmt so! Jetzt bloß kein Wechselgeld in die Börse stecken müssen – das könnte schief gehen!
Doch nun stellte sich mir die Frage, wie ich um Himmels willen in diesem Gedränge vom Barhocker auf den Boden und bis zur Tür kommen sollte! War das theoretisch überhaupt möglich?
Irgendwie schaffte ich es – und musste mich auch nur zweimal kurz an jemandem festkrallen, um nicht umzukippen. Ein paar Unmutsäußerungen und giftige Blicke von anderen Gästen später stand ich schließlich auf der Straße und lehnte mich ein paar Schritte weiter an ein Halteverbotsschild. Erstmal abwarten, ob die frische Luft mir gut tat oder den gefühlten Alkoholpegel in meinem Blut nach oben trieb. Danach konnte ich entscheiden, wie es weitergehen sollte.
Was für ein Abend. Was für ein Schicksal! Mein Leben war wirklich sinnlos und vor allem – hoffnungslos!
Obwohl ich reichlich Probleme hatte, meine Glieder und meine Organe – mein Magen wollte sich so gerne übergeben – zu kontrollieren, funktionierte mein Gehirn einwandfrei. Es erkannte mit erschreckender, schonungsloser Klarheit, dass es nur eine einzige konsequente Antwort auf diese Lebenswirklichkeit geben konnte, nämlich sie zu beenden. Alles andere wäre nur ein Hinauszögern des Unvermeidlichen, eine sinnlose Quälerei, ein Abstrampeln an der Wirklichkeit, ohne jemals etwas an der Tatsache ändern zu können, dass das Schicksal mehr als dieses klägliche Dahinvegetieren für mich nicht vorgesehen hatte!
Ich schaute hinauf zum Himmel, um mich zu vergewissern, dass man dort der gleichen Ansicht war, doch umgehend bemerkte ich, dass ich das lieber nicht tun sollte, denn nun wurde mir erst recht schwindelig. Meine Fähigkeit zum aufrechten Gang ließ dramatisch nach – und das, obwohl ich schon genügend Probleme damit hatte zu verhindern, mir selbst vor die Füße zu kotzen!
Dann hörte ich auch noch die Tür zur Bar aufgehen. Lateinamerikanische Rhythmen, Gesprächsfetzen und Gelächter quollen auf die Straße und bis zu mir hinüber. Einige Gäste standen halb auf dem Bürgersteig, halb in der Bar, zogen ihre Jacken an und verabschiedeten sich lautstark von anderen, die noch bleiben wollten. Mir war meine Situation zwischen schwanken, kotzen und vermutlich auch noch lallen, falls ich aus irgendeinem Grund angesprochen werden würde und sei es auch nur, weil sich ein fürsorglicher Mensch nach meinem Gesundheitszustand erkundigen wollte, ausgesprochen peinlich. Wie gesagt: Mein Gehirn funktionierte einwandfrei, nur alles andere entzog sich bedenklich meiner Kontrolle! Also beschloss ich, möglichst rasch von meinem sicheren Halt am Halteverbotsschild – die Ironie dieser Situation fiel mir damals jedoch nicht auf – zur anderen Straßenseite zu wechseln. Dort lag der Stadtpark, in den ich eintauchen wollte, um mich neugierigen und vielleicht auch missbilligenden Blicken zu entziehen.
Ich schaffte die Überquerung der Straße nach meinem Empfinden aufrecht und fand, dass ich auch halbwegs sicher auf meinen zwei Beinen wirkte. Nur den Höhenunterschied zwischen Straße und Bürgersteig hatte ich falsch eingeschätzt. Nach einem kleinen Stolperer fing ich mich schnell wieder – beziehungsweise scheiterte ich glücklicherweise nicht an irgendeinem Hindernis, das meinen Vorwärtsschwung hätte bremsen können – und fand mich auf einem in der Dunkelheit kaum erkennbaren Weg im Park wieder.
Hier beschloss ich abzuwarten, bis die Leute, die soeben die Bar verlassen hatten, endlich nach Hause gehen und die Luft rein sein würde. Dann hoffte ich, ein paar Minuten Zeit zu haben, um in Ruhe mein Fahrradschloss öffnen zu können. Das war schon in nüchternem Zustand schwierig, da der Schlüssel sehr klein war und das Schloss klemmte. Anschließend plante ich irgendwie aufs Rad zu kommen und nach Hause zu fahren. Dabei war ich mir sicher, dass ich auch das Aufsteigen und Losfahren gerne ohne Publikum ausprobieren wollte!
Leider schienen die vier Leute, die nun auf der Straße vor der Bar standen, eine Ewigkeit zu brauchen, um sich voneinander zu verabschieden. Ein Scherzchen gab noch eben das nächste und sie fanden kein Ende.
Währenddessen gewöhnten sich meine Augen an die mich umgebende Dunkelheit. Ich sah mich um: So undurchdringlich, wie zunächst vermutet, war die Finsternis gar nicht. Zwar hielten dicht belaubte Bäume und Büsche das Licht der Straßenlaternen weitgehend ab, doch ich gewann langsam eine Ahnung davon, wie der Weg, auf dem ich stand, weiter verlief, um schließlich, wie ich wusste, auf den Fluss zu stoßen, der die Stadt durchquerte.
Der Fluss!
Wenn ich schon mal hier und der Weg zurück zu meinem Fahrrad wenigstens in diesem Moment keine Option war, warum sollte ich mich dann nicht mal unverbindlich damit auseinandersetzen, wie es sich anfühlen mochte, wenn ich irgendwann das Unausweichliche tun und mich in die Fluten stürzen würde?