Muriel. T.D. Amrein
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Natürlich war auch Muriel nicht als männermordendes Monster geboren worden. Als kleines Mädchen, bei einem Ferienaufenthalt in Obhut ihres Großvaters Jean, prägte sie ein schreckliches Erlebnis. Jean lebte als Schleusenwärter in einem der winzigen Häuschen, die bis heute an fast jeder Schleuse stehen. Während inzwischen eine automatisierte Hydraulik die Tore schließt und der gesamte Ablauf einer Schleusung keinerlei menschliche Kraft mehr benötigt, sah Jeans Arbeitsalltag früher ganz anders aus.
Selbstverständlich ließen die Schiffer die schon damals äußerst anmutige Muriel bereitwillig auf ihr Boot, damit ihr während der Schleusung nichts passieren konnte. Sie liebte es zum Beispiel, sich am Deckrand kniend an die Reling zu lehnen und mit einer Weidenrute eifrig im einströmenden Wasser zu rühren.
Bei einer solchen Gelegenheit tauchte die halb verfaulte Fratze einer Wasserleiche genau im Kreis ihrer Rute auf. Bald darauf wurde die Leiche geborgen, und das war ein Glück. Wie sonst hätte sich erklärt, was die süße Muriel dermaßen erschreckt hatte, dass sie eine ganze Woche lang nicht mehr sprechen wollte?
Dieses Trauma, stellte sie bald fest, erwies sich als praktische Begründung für fast alles. Deshalb hielt sie den Zustand aufrecht, obwohl sie das Erlebnis in Wahrheit schon bald einigermaßen verarbeitet hatte. Dass sie anfangs tatsächlich in manchem Wasserwirbel eine Fratze auftauchen zu sehen glaubte, stimmte sogar. Ihr gesamtes Umfeld kannte den Grund und nahm es schulterzuckend hin.
Während ihrer ganzen Jugendzeit zog man ab und zu tote Körper aus dem Fluss, die an den Schleusen hängen geblieben waren. Natürlich versuchte man, den Anblick von Muriel fernzuhalten. Sie beobachtete deshalb immer besonders genau. Im Lauf der Zeit fiel ihr auf, dass niemals ein gewaltsamer Tod angenommen wurde, solange die Leichen keine auffälligen Verletzungen aufwiesen.
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Richtig begonnen hatte Muriels Nebenerwerb allerdings erst, als einer ihrer Gäste, der um eine zweite Instruktion zur Bedienung der Penichette gebeten hatte, sie reinlegen wollte. Oder genauer, eigentlich flach.
Ein glatzköpfiger Sechziger mit Kugelbauch, der klagte, dass er mit dem elektrischen Bugstrahlruder nicht zurechtkomme. Rasch stellte Muriel fest, dass es gar nicht funktionierte. Um die Sicherung zu kontrollieren, musste sie einen in der Kabine befindlichen Bodendeckel öffnen. Als sie davor kniete, packte er sie an den Handgelenken. Rabiat zwang er sie auf den Bauch und drohte, ihr einen Arm auszurenken, falls sie auch nur einen Mucks von sich geben sollte.
Ungelenk fesselte er ihre Hände auf dem Rücken. Er hat das so geplant, wurde Muriel schlagartig klar. Die Panne diente bloß als Vorwand, um sie anzulocken. Und um sie in eine körperliche Lage zu zwingen, aus der sie sich kaum noch zur Wehr setzen konnte. Wahrscheinlich war überhaupt nichts kaputt, ging ihr durch den Kopf. Er muss sich die Stricke zuvor zurechtgelegt haben. Sie versuchte, nicht zu stöhnen, wenn er an ihr zerrte. Warum sie so nüchtern analysieren konnte, statt in Panik zu verfallen, wusste sie selbst nicht.
Ihre Fußgelenke befestigte er an einer Heizungsleitung in der Kabine. Eine weitere Schlinge legte er ihr lose, aber das Ende griffbereit um den Hals.
»Rühr dich nicht, wenn du weiterleben willst«, zischte er. Dann erhob er sich schnaufend.
Muriel lag mit abgedrehtem Kopf auf dem Boden und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er warf eine Pille ein, die er mit einem kräftigen Schluck aus einer Weinflasche herunterspülte. Danach zündete er sich eine Zigarette an. Muriel sah den Rauch, doch der Dicke selbst verschwand aus ihrem Blickfeld. Seine Schritte entfernten sich, und für einen Moment wurde es dunkler in der Kabine, als er sich durch die schmale Tür zwängte.
Seine Knoten saßen nicht besonders fest. Muriel, daran gewöhnt mit Seilen umzugehen, schaffte es in wenigen Minuten, die Hände freizubekommen. Die Füße waren ebenfalls im Nu frei. Ihr erster Impuls war natürlich, rauszulaufen und schreiend auf sich aufmerksam zu machen. Allerdings herrschte an diesem Tag eine mörderische Hitze. Niemand hielt sich freiwillig im Freien auf. Das Boot lag als Einziges am kleinen Anleger eines Restaurants, das um diese Tageszeit geschlossen blieb. Der Alte hatte den Ort vermutlich mit Bedacht ausgewählt. Muriel konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie überhaupt jemand hören würde. Und sie kochte vor Wut. Mit dem alten Knacker werd ich doch fertig, dachte sie. Wenn sie es schaffte, ihn ins Wasser zu kriegen … Das traute sie sich zu.
Mit einer aus seinen Stricken zusammengeknoteten Leine in den Händen schlich sie sich aufs Vorschiff. Sie konnte ihn zwar hinter dem Bootsaufbau nicht sehen, aber der Rauch seiner Zigarette wies ihr den Weg.
Barfuß stieg sie auf das Oberdeck. Spähte vorsichtig nach hinten. Er saß rauchend mit dem Rücken zu ihr auf der Bank der Badeplattform. Rasch fädelte sie eine Schlinge ein, warf sie dem Alten über den kahlen Schädel und hechtete direkt ins Wasser.
Noch bevor er kapiert hatte, was ihm geschah, zerrte sie ihn an der Leine in den Fluss. Ob der Idiot überhaupt schwimmen konnte, wusste sie nicht. Jedenfalls strampelte er wild und schluckte sofort Wasser. Er ertrank, ohne dass Muriel ihn auch nur anzufassen brauchte, abgesehen vom Strick in ihren Händen. Den beließ sie an seinem Hals, bis er sich nicht mehr regte. Zwar hatte er daran gezerrt, in der Panik jedoch nicht bemerkt, dass er die Schlinge umso enger schloss, je stärker er zog.
Schon wenige Minuten später stand Muriel am Steuer und lenkte das Boot auf den Fluss. Mit der freien Hand zog sie sich ihre triefenden Sachen aus. Falls sie jetzt einer beobachtete, würde er wenigstens nicht auf die Leine achten, die vom Bug herabhing und im Wasser verschwand. Muriel hatte den Alten so befestigt, dass er während der Fahrt unter das Boot gezogen wurde und deshalb nicht gesehen werden konnte.
Als sie jedoch nach einer guten Stunde Fahrt in einem Waldstück, das der Fluss hier durchschnitt, die Leine an Bord holte, stellte sie entsetzt fest, dass sie ihn offenbar verloren hatte. Einer der Knoten musste sich gelöst haben.
Dieses Erlebnis bildete den Start ihrer »Karriere«.
Die Leiche des Alten tauchte ihres Wissens nie wieder auf. Schon damals hatte sie seine Wertsachen als eine Art Entschädigung behalten. Er hatte eine ansehnliche Summe in seinem Koffer gehortet. Für Muriel begann eine finanziell unbeschwerte Zeit, die sie später nicht mehr missen mochte. Seither achtete sie gezielt auf einsame, ältere Herren unter der Kundschaft des Bootsverleihs, am liebsten im Ruhestand. Während des Eincheckens und der darauf folgenden Instruktionsfahrt gaben sie ihr bereitwillig Auskunft über ihren Familienstand und weitere persönliche Details. Die meisten reisten im eigenen Wagen an, eine gute Gelegenheit für Muriel, sich von der finanziellen Ausstattung ihrer potenziellen Opfer ein Bild zu machen. Wenn einer die Kriterien erfüllte, legte sie ihr Netz aus, in dem sich die Herren, ohne zu zögern und leidenschaftlich gern verstrickten. Glücklicherweise blieb der größte Teil ihrer Opfer genauso spurlos im Fluss verschwunden wie der fette Alte. Trotzdem »erlitt« Muriel immer eine »Sichtung«, kurz nachdem sie mal wieder einen Touri versenkt hatte. Als bloße Vorsichtsmaßnahme.
2. Kapitel
Kommissar Eric Guerin wartete geduldig am Rand der ecluse Nr. 07 darauf, dass die Pumpen den rund vierzig mal fünf Meter messenden Trog der Schleuse leerten. Bis auf den Grund in rund sechs Metern Tiefe, wo er auf einen leblosen Körper zu stoßen vermutete. Oder auch hoffte, um den gewaltigen Aufwand zu rechtfertigen, nachdem schon die