Muriel. T.D. Amrein

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Muriel - T.D. Amrein Krügers Fälle

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sah nur kurz hoch, als Megane beim Schalten mit dem abgespreizten kleinen Finger leicht sein Bein streifte. Bestimmt ein Versehen. Ihm fiel ein, wie er so eine Situation noch vor gar nicht allzu langer Zeit angegangen wäre. Natürlich wäre er selbst gefahren, den Beinstreifer hätte er sich allerdings verkniffen. Zu plump. Normalerweise reichten einige Komplimente und bewundernde Blicke, um einer Frau wie Megane näherzukommen. Schon deshalb, weil er deutlich jünger war als sie, und seine guten Manieren verfehlten ihren Eindruck selten. Auch sein »Teure-Schuhe-Tick«, stieß bei Damen meistens auf Interesse. Daraus ergab sich Gesprächsstoff, eins führte zum anderen, und nicht selten endete das Ganze in einem Bett. Jedoch – alles Schnee von gestern: Er hatte kürzlich sein Lotterleben beendet und die absolut bezaubernde Michélle geheiratet. Ob und wie lange ihn das gegen Avancen von Frauen wie seine aktuelle Begleiterin immun halten konnte, würde sich zeigen.

      Megane parkte vor einer modernen Klinik. Sie ging voraus, er trottete hinterher. Eher zufällig stellte er fest, dass sie auch von hinten ziemlich interessant aussah, zumindest ihre untere Hälfte. Ihr Rock reichte immerhin fast bis zu den Knien, war jedoch so eng, dass es wenig Fantasie bedurfte, was der elastische Stoff verdeckte. Vor allem ihr Hinterteil, das man ohne Übertreibung als markant bezeichnen konnte, beschäftigte ihn. Denn es kreiste beim Gehen irgendwie um ein imaginäres Zentrum. Absolut verwirrend, fand Guerin.

      Zum »Glück« blieb sie bald vor einem Lift stehen, bevor er sich näher in den Sachverhalt vertiefen konnte.

      Einige Geschosse tiefer erwartete sie Doktor Pierre bereits mit einem schwarzen Klemmbrett in der Hand, das er beim Sprechen mitbewegte, als wäre es überhaupt nicht vorhanden. »Herzlich willkommen im Reich des Hades!«, begrüßte er sie. »Sie sehen jedes Mal jünger aus, Mademoiselle«, schleimte er in Richtung Megane.

      Außer einem schwachen Grinsen erntete er nichts dafür, stellte Guerin schadenfroh fest. Der Gebrauch der Anrede Mademoiselle war auch in Frankreich längst passé, aber Rechtsmediziner ticken überall etwas eigen, das wusste Guerin. Außerdem kannten sich die beiden vermutlich schon länger. Vielleicht bloß ein altes Ritual, das sie pflegten.

      Der Doktor setzte eine ernste Miene auf. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen!«

      Nachdem sie in einem nüchternen Raum Platz genommen hatten, legte der Doktor eine Skizze auf den Tisch, die Zeichnung eines stark stilisierten Menschen. Unzählige Kreuzmarkierungen bedeckten das Blatt. »Alles kleinere und mittlere Verletzungen. Keine Brüche, jedoch eingeschlagene Zähne und zerquetschte Finger. Der Mann wurde über längere Zeit misshandelt, bevor man ihn erst ertränkt und danach auf ihn geschossen hat. Todesursache war Ertrinken«, bekräftigte er.

      Megane verzog angewidert das Gesicht. »Erschossen? Wozu? Ohne die sinnlose Schussverletzung wäre der Tod vielleicht als Unfall oder Selbstmord eingestuft worden.«

      Guerin musterte sie kurz. »Sinnlos?«, wiederholte er. »Muss nicht sein. Vielleicht ein Racheakt. Ein Exempel?«

      »Der Mörder konnte doch nicht damit rechnen, dass die Leiche wieder auftaucht«, warf Megane ein. »An wen sollte die Botschaft denn gehen?«

      »Vielleicht an jemanden der schon im Fluss liegt«, meldete sich der Doktor.

      Megane sah ihn entgeistert an. »Botschaften an andere Leichen, na klar! Sie hatten schon immer eine blühende Fantasie, Herr Doktor«, stichelte sie.

      Guerin schüttelte den Kopf. »So abwegig finde ich das jetzt auch wieder nicht. Pflegen Sie denn keine Rituale, Madame, die an sich sinnlos sind?«

      Megane schien skeptisch. »Geben Sie mir ein Beispiel, Herr Kommissar.«

      »Salz über die Schulter werfen, Holz anfassen, darauf achten, mit welchem Bein Sie zuerst aufstehen …« Er stockte kurz. Seine Fantasie hatte ihm umgehend ein passendes Bild geliefert.

      Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre doch Blödsinn! Hier geht es darum, einen Mord zu vertuschen. Der Täter hat es uns leicht gemacht, seine Tat als solches zu erkennen. Ohne Not!«

      »Das wird uns bestimmt noch eine ganze Weile beschäftigen«, sinnierte Guerin. »Weitere Auffälligkeiten?«, fragte er den Pathologen. »Gegenstände in den Taschen?«

      Der Doktor schüttelte den Kopf. »Absolut nichts. Außer der Kette, natürlich.«

      »Lassen sich Rückschlüsse aus den übrigen Verletzungen ziehen?«

      »Hier, die kreisrunden Hämatome auf der Brust.« Er zeigte auf einige Kreuze auf der Skizze. »Scheint so, als wurde er mit einem harten Gegenstand unter Wasser gedrückt. Bestimmt kein Ruder oder ein Bootshaken. Eine kurze Eisenstange möglicherweise.«

      »Sie haben doch bestimmt Fotos von den Abdrücken?«, fragte Guerin.

      Doktor Pierre nickte. »Alles im Hefter, den ich für Sie zusammengestellt habe. Auch Röntgenbilder der paar Zähne, die man ihm noch gelassen hat.«

      Guerin erhob sich. »Danke, Herr Doktor!«

      ***

      Le tour lief in der letzten Woche. Guerin hatte inzwischen mit Megane unzählige Plätze am Oberlauf der Saône besucht, stets mit dem Foto des Toten und einem Muster der Ankerkette ausgestattet. Sie hatten Bootsbauer und Ladenbesitzer genauso befragt wie Hafenmeister und Gemeindeangestellte, Anwohner sowie Personal der Restaurants am Fluss und in der näheren Umgebung. Das Resultat: Keiner wollte den Mann jemals gesehen haben. So eine Kette dagegen hatte fast jeder schon einmal irgendwo bemerkt. Natürlich hatte Guerin den Hersteller gleich zu Anfang gesucht und auch gefunden. Diese Ketten wurden im ganzen Land überall verkauft; völlig illusorisch, damit auf irgendwelche brauchbaren Hinweise zu hoffen. Guerin vermutete, dass das gefundene Kettenstück irgendwo herumgelegen hatte und vom Täter entwendet worden war. Da es mit einem Schweißbrenner abgetrennt worden war, lag der Verdacht nahe, dass es sich um einen Zufallsfund des Mörders handelte. Schweißbrenner standen schließlich nicht an jeder Ecke herum und konnten auch nicht von jedermann ohne Fachkenntnisse benutzt werden. Guerin hoffte, dass jemand genau so ein Stück Kette vermisste. Dann hätte er schon mal einen Ort.

      Vergeblich. Guerins Enttäuschung wurde durch die Umstände der Untersuchung gedämpft. Prachtvolles Wetter, jeden Tag im Freien und am Fluss. Er genoss es, die leicht bekleideten Urlauberinnen zu befragen. Wer konnte es ihm verdenken, dass er seinen Charme einsetzte, solange es der Wahrheitsfindung diente? Ohne, dass sie es abgesprochen hätten, übernahm Megane die Herren, bei denen sie mit ihrer einnehmenden Art meistens genauso gut ankam wie er bei den Damen. Außerdem wirkten sie in zivil und als Paar offenbar weniger wie Polizisten, eher wie Urlaubsbekanntschaften, mit denen sich die Touristen ganz locker unterhielten.

      Trotzdem brauchte Guerin bald einen Fortschritt, sonst blieb der Fall unlösbar. Immer noch keine Anhaltspunkte, um wen es sich bei dem Toten handelte. Keine weiteren Erkenntnisse oder auch nur der vageste Hinweis, dass jemand glaubte, dem Opfer einmal begegnet zu sein. Sobald der Sommer zu Ende ginge, würde sich die gesamte auf den Tourismus ausgelegte Lebensweise entlang des Flusses verändern. Es war schon möglich, dass ein Zeuge sich später an etwas erinnerte, dem er heute keine Bedeutung beimaß. Ein Name zum Beispiel, oder einer dieser Zufälle, die ab und zu weiterhalfen.

      Auch Megane blieb ihm ein Rätsel. Sie behandelte ihn, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Binnen Kurzem hatte sie seine Gewohnheiten und Vorlieben herausgefunden und sich darauf eingestellt, an sich nichts Ungewöhnliches – für eine verliebte Frau. Doch Gefühle schien sie nicht für ihn zu hegen. Ihr lasziver Gang, die zur Schau gestellten Reize, ihre Liebenswürdigkeit galten allen gleichermaßen, ohne dass er dabei besondere Absichten erkennen konnte. Dass sie eine Lesbe sein könnte, hatte Guerin

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