Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens. Jakob Wassermann
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Das mit keiner Namensunterschrift versehene Schreiben lautete: »Ich schicke Ihnen hier einen Burschen, Herr Rittmeister, der möchte seinem König getreu dienen und will unter die Soldaten. Der Knabe ist mir gelegt worden im Jahre 1815, in einer Winternacht, da lag er an meiner Tür. Hab’ selber Kinder, bin arm, kann mich selber kaum durchbringen, er ist ein Findling, und seine Mutter hab’ ich nicht erfragen können. Hab’ ihn nie einen Schritt aus dem Haus gelassen, kein Mensch weiß von ihm, er weiß nicht, wie mein Haus heißt, und den Ort weiß er auch nicht. Sie dürfen ihn schon fragen, er kann es aber nicht sagen, denn mit der Sprache ist es noch schlecht bei ihm bestellt. Wenn er Eltern hätte, wie er keine hat, wär’ was Tüchtiges aus ihm geworden, Sie brauchen ihm nur etwas zu zeigen, da kann er es gleich. Mitten in der Nacht hab’ ich ihn fortgeführt, und er hat kein Geld bei sich, und wenn Sie ihn nicht behalten wollen, müssen Sie ihn erschlagen und in den Rauchfang hängen.«
Als Daumer gelesen hatte, gab er dem Bürgermeister das Schriftstück zurück und ging mit ernster Miene auf und ab.
»Nun, was halten Sie davon?« forschte Binder; »einige unsrer Herren sind der Ansicht, der Unbekannte selbst könne den Brief geschrieben haben.«
Daumer hielt mit einem Ruck in seiner Wanderung inne, schlug die Hände zusammen und rief: »Ach, du himmlische Gnade!«
»Dazu ist natürlich gar kein Grund vorhanden,« beeilte sich der Bürgermeister hinzuzufügen. »Daß bei der Abfassung des Schreibens eine zweckvolle Tücke gewaltet hat, daß es dazu bestimmt ist, Nachforschungen zu erschweren und irrezuführen, ist offenbar. Es ist eine schnöde Kaltherzigkeit im Ton, die mir von Anfang an den Verdacht erregt hat, daß der Jüngling das unschuldige Opfer eines Verbrechens ist.«
Eine mutige Meinung, in welcher der Bürgermeister durch einen Vorgang sehr bestärkt wurde, der sich ereignete kurz nachdem die Herren von der Kommission am folgenden Morgen das Gefängnis Caspar Hausers betreten hatten. Während der Wärter damit beschäftigt war, den Knaben zu entkleiden, ließ sich drunten in einer Gasse am Burgberg eine Bauernmusik hören und zog mit klingendem Spiel an der Mauer vorüber. Da lief ein grauenhaft anzuschauendes Zittern über den Körper Hausers, sein Gesicht, ja sogar seine Hände bedeckten sich mit Schweiß, seine Augen verdrehten sich, alle Fibern lauschten dem Schrecken entgegen, dann stieß er einen tierischen Schrei aus, stürzte zu Boden und blieb zuckend und schluchzend liegen.
Die Männer erbleichten und sahen einander ratlos an. Nach einer Weile näherte sich Daumer dem Unglücklichen, legte die Hand auf sein Haupt und sprach ein paar tröstende Worte. Dies wirkte beruhigend auf den Jüngling, und er wurde stille; nichtsdestoweniger schien der ungeheure Eindruck des gehörten Schalls seinen Leib von innen und von außen verwundet zu haben. Tagelang nachher zeigte sein Wesen noch die Spuren der empfundenen Erschütterung; er lag fiebernd auf dem Strohsack, und seine Haut war zitronengelb. Teilnahmsvollen Fragen gegenüber war er allerdings herzlich bewegt, und er suchte nach Worten, um seine Erkenntlichkeit zu beweisen, wobei sein sonst so klarer Blick sich in dunkler Pein trübte; besonders für den Professor Daumer, der zwei- bis dreimal täglich zu ihm kam, legte er eine zärtliche Dankbarkeit, schweigend oder stammelnd, dar.
Bei einem dieser Besuche war Daumer mit dem Knaben ganz allein, und das zum erstenmal; der Wärter hatte auf seine Bitte das untere Tor abgesperrt. Er saß dicht neben dem Gefangenen, er redete, fragte, forschte, alles mit einem vergeblichen Aufwand von Innigkeit, Geduld und List. Zum Schluß beschränkte er sich darauf, das Tun und Lassen des Jünglings voll Spannung zu beobachten. Plötzlich stieß Caspar Hauser seine verworrenen Laute aus: er schien etwas zu fordern und spähte suchend herum. Daumer erriet bald und reichte ihm den gefüllten Wasserkrug, den Hill auf die Ofenbank gestellt hatte. Caspar nahm den Krug, setzte ihn an die Lippen und trank. Er trank in langen Schlücken, mit beseligter Gelöstheit und einem begeisterten Aufleuchten der Augen, wie wenn er für den kurzen Zeitraum des Genusses vergessen hätte, daß das dämonisch Unbekannte auf allen Seiten ihn bedrängte.
Daumer geriet in eine seltsame Aufregung. Als er nach Hause kam, durchmaß er länger als eine halbe Stunde mit großen Schritten sein Studierzimmer. Gegen acht Uhr pochte es an der Tür, seine Schwester trat ein und rief ihn zum Abendessen. »Was glaubst du, Anna,« rief er ihr lebhaft und mit beziehungsvollem Ton zu, »zweimal zwei ist vier, wie?«
»Es scheint so,« erwiderte das junge Mädchen, verwundert lachend, »alle Leute behaupten es. Hast du denn entdeckt, daß es anders ist? Das sähe dir ähnlich, du Aufwiegler.«
»Nicht gerade das hab’ ich entdeckt, aber doch etwas der Art,« sagte Daumer heiter und legte den Arm um die Schulter der Schwester. »Ich will einmal unsre braven Philister tanzen lassen! Ja, tanzen sollen sie mir und staunen.«
»Betrifft es etwa gar den Findling? Hast du was mit ihm vor? Sei nur auf der Hut, Friedrich, und laß dich nicht in Scherereien ein, man ist dir ohnedies nicht grün.«
»Gewiß,« gab er, rasch verstimmt, zur Antwort, »das Einmaleins könnte Schaden leiden.«
»Nun, weiß man noch gar nichts über den Sonderling?« fragte bei Tisch Daumers Mutter, eine sanfte alte Dame.
Daumer schüttelte den Kopf. »Vorläufig kann man nur ahnen, bald wird man wissen,« entgegnete er mit starr nach oben gerichtetem Blick.
Am folgenden Tag brachte die »Morgenpost« einen Artikel, der die Überschrift trug: Wer ist Caspar Hauser? Wenngleich auf diesen Appell keiner der Leser eine Antwort zu erteilen vermochte, wurde der Zudrang der Neugierigen so groß, daß das Bürgermeisteramt sich genötigt sah, die Besuchsstunden durch eine strenge Vorschrift zu regeln. Bisweilen standen die Leute Kopf an Kopf vor der offenen Tür des Gefängnisses, und in allen Gesichtern war die Frage zu lesen: Was ist es mit ihm? Was ist es für ein Mensch, der die Worte nicht versteht und dennoch sprechen kann, die Dinge nicht erkennt und dennoch sehen kann, der zu lachen vermag, kaum daß sein Weinen zu Ende, der arglos scheint und geheimnisvoll ist und hinter dessen unschuldig leuchtenden Augen vielleicht Übeltat und Schande verborgen sind?
Sicherlich spürte der Gefangene, spürte es schmerzlich, was die lüstern auf ihn gerichteten Blicke begehrten, und der Wunsch, ihnen zu willfahren, erzeugte möglicherweise die erste erhellende Dämmerung, welche ihm selbst die Vergangenheit langsam begreiflich machte, so daß er in beunruhigter Brust nach dem Gewesenen tastete, ein Gewesenes erst fühlte und die Gegenwart damit verband, im tiefsten schaudernd an der Zeit messen lernte, was sie verändernd mit ihm getan, und was er sah, mit dem verglich, was er ehedem gesehen. Er begriff das Fordernde der Frage und ward des Mittels inne, die verlangenden Mienen zu befriedigen.
Mit durstigen Sinnen suchte er das Wort. Sein flehentlicher Blick grub es heraus aus dem sprechenden Mund der Menschen.
Hier war Daumer in seinem Element. Was keinem andern, dem Arzt nicht, dem Wärter nicht, dem Bürgermeister nicht, den Protokollanten erst recht nicht gelingen wollte, das vermochte nach und nach seine Behutsamkeit und zweckvolle Geduld. Die Person des Findlings beschäftigte ihn aber auch dermaßen, daß er seiner Studien und privaten Obliegenheiten, ja beinahe seines öffentlichen Amtes darüber vergaß, und er erschien sich wie ein Mann, den das Schicksal vor das ihm allein bestimmte Erlebnis gestellt hat, wodurch sein ganzes Leben und Denken eine glückliche Bestätigung erfährt. Unter seinen Notizen über Caspar Hauser lautete eine der ersten wie folgt: »Diese in einer fremden Welt hilflos schwankende Gestalt, dieser schlafumfangene Blick, diese angstverhaltene Gebärde, diese über einem etwas verkümmerten Untergesicht edel thronende Stirn, auf welcher Frieden und Reinheit strahlen: