Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens. Jakob Wassermann

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Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens - Jakob Wassermann

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die an seinem Schicksal freien Anteil nahmen, zu ihm auf den Turm geschickt. Es war ein endloses Schnüffeln und Debattieren, Zweifeln und Staunen, doch die verschiedenen Erklärungen liefen alle auf eins hinaus, und die bloße Kraft des Augenscheins mußte den Daumerschen Bericht bestätigen.

      Wenige Tage später, gegen Anfang Juli, veröffentlichte der Bürgermeister einen Aufruf, der im ganzen Land Verwunderung und Beunruhigung erregte. Zunächst wurde darin das Erscheinen Caspar Hausers geschildert, und nachdem die eigne Erzählung des Jünglings mit tunlichster Ausführlichkeit wiedergegeben war, beschrieb der Verfasser diesen selbst. Er sprach von der alle Umgebung bezaubernden Sanftmut und Güte des Knaben, in der er anfangs immer nur mit Tränen und nun, im Gefühl der Erlösung, mit Innigkeit seines Unterdrückers gedenke; von seiner rührenden Ergebenheit an diejenigen, die häufig mit ihm umgingen, von seiner unbedingten Willfährigkeit zum Guten, die mit der Ahnung dessen verbunden sei, was böse ist, ferner von seiner außerordentlichen Lernbegierde.

      »Alle diese Umstände,« fuhr der beredsame Erlaß fort, »geben in demselben Maß, in dem sie die Erinnerungen des Jünglings bekräftigen, die Überzeugung, daß er mit herrlichen Anlagen des Geistes und des Herzens ausgestattet ist, und berechtigen zu dem Verdacht, daß sich an seine Kerkergefangenschaft ein schweres Verbrechen knüpft, wodurch er seiner Eltern, seiner Freiheit, seines Vermögens, vielleicht sogar der Vorzüge hoher Geburt, in jedem Fall aber der schönsten Freuden der Kindheit und höchsten Güter des Lebens verlustig geworden ist.«

      Eine kühne und folgenschwere Vermutung, die eher dem mitleidigen Gemüt und dem romantischen Geist als der behördlichen Vorsicht eines hohen Bürgermeisteramtes zur Ehre gereichte!

      »Zudem beweisen mancherlei Anzeichen,« hieß es weiter, »daß das Verbrechen zu einer Zeit verübt worden, wo der Jüngling der Sprache schon einmal mächtig gewesen und der Grund zu einer edeln Erziehung gelegt war, die gleich einem Stern in finsterer Nacht aus seinem Wesen hervorleuchtet. Es ergeht daher an die Justiz-, Polizei-, Zivil- und Militärbehörden und an jedermann, der ein menschliches Herz im Busen trägt, die dringende Aufforderung, alle, auch die unbedeutendsten Spuren und Verdachtsgründe bekanntzugeben. Und nicht etwa deswegen, um Caspar Hauser zu entfernen, denn die Gemeinde, die ihn in ihren Schoß aufgenommen, liebt ihn, betrachtet ihn als ein von der Vorsehung ihr zugeführtes Pfand der Liebe, das sie ohne gültigen Beweis der Ansprüche andrer nicht abtreten wird, sondern nur, um die Übeltat zu entdecken und den Bösewicht samt seinen Gehilfen der gerechten Sühne auszuliefern.«

      Wahrscheinlich wurden von den Urhebern große Hoffnungen an das Manifest geknüpft, aber die Sache nahm einen ganz unerwarteten Verlauf und bereitete den Nürnberger Herren mancherlei Verlegenheiten. Zunächst lief eine Menge unsinniger und verleumderischer Bezichtigungen ein, durch welche eine Reihe von adligen Familien und von intimen Vorgängen in aristokratischen Kreisen dem Gerede ausgesetzt wurden: Kindesmord, Kindesraub, Kindesunterschiebung waren nach Ansicht des gemeinen Volks Verbrechen, welche die vornehmen Leute täglich und zum Vergnügen begehen.

      Schlimmer war es, daß die magistratische Bekanntmachung dem Appellhof des Rezatkreises auf nichtamtlichem Weg zu Händen kam. Irgendein grimmiger Hofrat am selben Gerichtshof erließ allsogleich ein gepfeffertes Schreiben an die Kreisregierung in Ansbach, worin erstlich die Publikation des Nürnberger Bürgermeisters als vorschriftswidrig, zweitens als abenteuerlich bezeichnet wurde, worin drittens der lebhafte Tadel darüber ausgedrückt war, daß durch das verfrühte Preisgeben wichtiger Umstände eine Kriminaluntersuchung wenn auch nicht vereitelt, so doch sehr erschwert worden sei. Der ergrimmte Hofrat ersuchte daher die Regierung, den Magistrat zu strenger Rechenschaft zu ziehen und zu befehlen, daß die den Fall behandelnden Polizeiakten unverzüglich anher zu senden seien.

      Die Regierung ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie sendete ein Reskript an den Stadtkommissär von Nürnberg und äußerte sich dahin, daß die erzählte Lebensbeschreibung des Findlings so viele grobe Unwahrscheinlichkeiten enthalte, daß der Gedanke an eine ärgerliche Täuschung nicht abzuweisen sei. Gleichzeitig wurden die noch vorhandenen Exemplare des »Intelligenzblattes« und des »Friedens- und Kriegskuriers«, in welchen Zeitungen der Aufruf erschienen war, beschlagnahmt. Dies wurde dem Appellhof ordnungsgemäß mitgeteilt und die Erwägung daran geknüpft, ob die strafrechtliche Verfolgung des Häftlings einzuleiten sei oder nicht.

      Den Magistratsherren fuhr ein heilloser Schrecken in die Glieder. Schleunigst ließen sie die Aktenfaszikel zusammenpacken und schickten sie mit Eilpost nach Ansbach hinüber. Vielleicht wähnten sie, daß nun alles gut sei, aber der grimme Hofrat dortselbst erhob alsbald wieder seine Stimme. »Die Verhöre mit dem Häftling und die Zeugnisse über ihn sind aktenmäßig nicht einwandfrei,« zeterte er; »es sind keineswegs alle Personen, die zuerst mit ihm in Berührung getreten sind, polizeilich vernommen worden; ferner hätte der Professor Daumer, um der öffentlichen Bekanntmachung des Magistrats eine rechtliche Basis zu geben, seine Gespräche mit dem Findling zu den Akten legen sollen.«

      Die Regierung, um ein übriges zu tun, warnte den Magistrat vor einseitigem Verfahren. Darauf erwiderte der Magistrat in einem Anfall von Trotz und Entrüstung: ja, aber in den Maßregeln, wie ihr sie verlangt, liegt Gefahr, die Entdeckung zu hemmen, welche Anklage die vorgesetzte Behörde mit zorniger Energie zurückwies. Holt eure Versäumnisse nach, diktierte sie, protokolliert Verhöre, schickt Akten, Akten, nichts als Akten.

      Mit innerer Wut hatte der Professor Daumer diese Vorgänge verfolgt. Er bezeichnete das Treiben der Ansbacher Behörde als widerwärtige Federfuchserei und hatte allen Ernstes die Absicht, seinem Unmut in einer geharnischten Epistel an die Regierung Luft zu machen. Mit Mühe hielten besonnene Freunde ihn davon zurück. »Aber es muß doch etwas geschehen!« warf er ihnen voll Empörung entgegen, »man ist ja auf dem besten Weg, einen Justizmord zu begehen, und soll ich dazu die Hände in den Schoß legen?«

      »Das ratsamste wäre,« antwortete der Freiherr von Tucher, der bei diesem Auftritt anwesend war, »sich persönlich an den Staatsrat Feuerbach zu wenden.«

      »Das hieße also, nach Ansbach reisen?«

      »Gewiß.«

      »Aber nehmen Sie denn an, daß er, als Präsident des Appellgerichts, von den Maßnahmen seiner untergebenen Beamten nicht schon unterrichtet ist und sie etwa gar mißbillige?«

      »Gleichviel, ich verspreche mir etwas von einer mündlichen Auseinandersetzung; ich kenne Herrn von Feuerbach, er ist der letzte, der einer gerechten Sache sein Ohr verschließt.«

      Die Reise wurde beschlossen. Daumer und Herr von Tucher befanden sich am andern Tag schon in Ansbach. Unglücklicherweise war der Präsident Feuerbach gerade auf einer Inspektionsreise durch den Bezirk, sollte erst am fünften Tag zurückkommen, und die beiden Herren, sofern sie das vorgesetzte Ziel erreichen wollten, mußten ihren Aufenthalt in der Kreishauptstadt über Gebühr verlängern.

      Mittlerweile hatte der Findling eine gar böse Zeit. Sein Turmgefängnis wurde das Ziel aller Müßiggänger und Neugierlinge der ganzen Stadt. Man lief hin wie zu der Ausstellung einer unterhaltsamen Rarität, denn der magistratische Erlaß hatte ihn zu einem öffentlichen Gegenstand gemacht. Seine bisherigen Beschützer waren ein wenig zurückhaltender geworden, denn man wußte ja nicht, wie die Geschichte enden würde und ob nicht ein hochweises Appellgericht ihn zum gewöhnlichen Schwindler stempeln würde. Der Turmwärter durfte der allgemeinen Volksbelustigung nicht steuern, der Bürgermeister selbst hatte die früheren Befehle aufgehoben, weil es zweckmäßig schien, daß möglichst viele Leute den Fremdling sahen. Oft erbarmte ihn der wehrlose Knabe, doch schmeichelte es anderseits seiner Eitelkeit, Herr über ein solches Wunderding zu sein, auch spazierte nebenbei mancher Groschen in den Beutel.

      Brach der Morgen an und Caspar Hauser erhob sich vom Schlaf, seltsam müde, mit den Augen das Licht meidend; saß er traurig stumm in der Ecke, während Hill den Strohsack aufschüttelte und

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