Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens. Jakob Wassermann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens - Jakob Wassermann страница 7
Mit dem Verlauf des Tages wurde die Gesellschaft vornehmer; es kamen ganze Familien, der Herr Rendant mit Weib und Kind, der Herr Major a. D., der Schneidermeister Bügelfleiß, Graf Rotstrumpf mit seinen Damen, Herr von Übel und Herr von Strübel, die ihre Morgenpromenade zum Zweck einer Besichtigung des kuriosen Untiers unterbrachen.
Es war ein heiteres Treiben; man konversierte, wisperte, lachte, spottete und tauschte Meinungen aus. Man war freigebig und brachte dem Jüngling allerlei Geschenke, die er ansah wie ein Hund, der noch nicht apportieren gelernt hat, den fortgeworfenen Spazierstock seines Herrn ansieht. Man legte Eßwaren vor ihn hin, um seinen Appetit zu reizen; so schleppte zum Beispiel die Kanzleirätin Zahnlos einmal eine ganze Schinkenkeule herauf, die allerdings am andern Tag verschwunden war – wohin, das wußte niemand; doch zog man bedeutsame Schlüsse daraus.
Vor allem hieß es: zeigt uns das Wunder, das angepriesene Wunder! Aber da der schweigsame, sanftherzige Knabe nichts von alledem tat, was sie in ihrer lüsternen Erwartung sich eingebildet, so begannen sie entweder zu schimpfen – als ob sie Eintrittsgeld bezahlt hätten und darum betrogen worden wären – oder stellten die erstaunlichsten Torheiten an. Indem sie ihn fortwährend mit Fragen quälten, woher er komme, wie er heiße, wie alt er sei und ähnliches, kamen sie sich sowohl witzig wie überlegen vor. Sein flehentliches Kopfschütteln, sein ungereimtes Nein oder Ja, das wie aus Kindermund froh-bereitwillig und furchtsam zugleich klang, sein Gestotter, sein gläubiges Lauschen, alles das erregte ihr Behagen. Einige brachten ihr Gesicht ganz nah an seines und waren höchst vergnügt, wenn er vor ihren Starrblicken sichtlich bis ins Innerste erschrak. Sie befühlten seine Haare, seine Hände, seine Füße, zwangen ihn, durchs Zimmer zu spazieren, zeigten ihm Bilder, die er erklären sollte, und taten zärtlich mit ihm, während sie einander listig zuzwinkerten.
Aber die Harmlosigkeit solcher Versuche ward den unternehmenderen Geistern bald überdrüssig. Man wollte sich doch überzeugen, ob es seine Richtigkeit damit hatte, daß der Gefangene jede Nahrung außer Brot und Wasser verschmähe. Man hielt ihm Fleisch und Wurst, Honig oder Butter, Milch oder Wein vor die Nase und amüsierte sich köstlich, wenn der Knabe vor Ekel förmlich außer sich geriet. »Ei, der Komödiant,« kreischten sie dann, »tut, als ob er unsre Leckerbissen verachte! Hat sich wahrscheinlich mal in eines großen Herrn Küche überfressen!«
Einen Hauptspaß gab’s, als einmal zwei junge Meister der Goldschlägerinnung Schnaps herbeibrachten und sich verabredeten, dem Hauser das Getränk mit Gewalt aufzunötigen. Der eine hielt ihn, der andre wollte ihm das volle Glas zwischen die Lippen schütten. Doch konnten sie ihren Plan nicht ausführen, weil ihr Opfer durch den bloßen Geruch, der aus dem Gefäß strömte, das Bewußtsein verloren hatte. Sie waren einigermaßen verdutzt und wußten mit dem Ohnmächtigen nichts anzufangen; zum Glück sahen sie ihn atmen und hatten weiter keine Furcht. »Glaubt ihm doch seine Kniffe nicht,« meinte ein stutzerhaft gekleidetes Bürschlein, das bisher gelangweilt dabeigestanden, »ich will ihn schon wieder munter kriegen.« Sprach’s, zog lächelnd die goldene Schnupftabaksdose und steckte eine volle Prise unter die Nase des vermeintlichen Simulanten, dessen Gesicht sogleich von heftigen Zuckungen bewegt wurde, worüber alle drei in Gelächter ausbrachen. Als dann der Wärter kam und sie derb zur Rede stellte, zogen sie schimpfend ab und räumten den Plan einem gravitätischen älteren Herrn, der den langsam zum Leben zurückkehrenden Caspar von vorn und von hinten beschnüffelte, den Finger an die Stirn legte, sich räusperte, den Kopf schüttelte, erst französisch, dann spanisch, dann englisch auf den Jüngling einredete, mit dem Wärter tuschelte, kurz von Wichtigkeit förmlich barst.
Caspar jedoch sah ihn immer nur an und sagte in jämmerlichem Ton: »Heimweisen.«
»Warum spielst du nicht mit dem Rößlein?« fragte, als die wichtige Person gegangen war, der Wärter. Man verständigte sich mit Caspar noch immer mehr durch Gesten als durch Worte, und er selbst las, was Worte ihm nicht mitteilen konnten, von den Augen und den Händen der Menschen ab.
Er blickte auch Hill lange an und sagte: »Heimweisen.«
»Heimweisen?« antwortete der Wärter, halb verdrießlich, halb mitleidig. »Wohin denn heim? Wo bist du denn daheim, du Unglückswurm? In dem unterirdischen Loch vielleicht? Nennst du das daheim?«
»Der Du soll kommen,« sagte Caspar klar, langsam und hell.
»Der wird sich hüten,« versetzte Hill, bärbeißig lachend.
»Der Du kommt, bald kommt,« beharrte Caspar, und er schaute mit einem Ausdruck feierlicher Inbrunst gegen den abendlichen Himmel, als sei er überzeugt, daß der Du durch die Lüfte schreiten könne. Dann erhob er sich in seiner mühevollen Weise, nahm sein Spielpferdchen und versuchte es zu tragen, denn dies allein wollte er von den Gegenständen, die er geschenkt erhalten, mitnehmen, wenn der Du käme, sonst nichts.
Hill begriff sein Vorhaben. »Nein, Caspar,« sagte er, »jetzt mußt du schon in dieser Welt bleiben. Daß sie dir nicht gefallen mag, versteh’ ich wohl. Mir gefällt sie auch nicht, aber dableiben mußt du.«
Caspar, wenngleich er den Worten nicht ganz folgen konnte, erfaßte doch den unabänderlichen Beschluß, den sie enthielten. Er begann an allen Gliedern zu beben, laut weinend warf er sich zu Boden, aber auch später, als es dem bestürzten Hill gelungen war, ihn zu trösten, schien es, wie wenn er vor Kummer sein Herz verhauche. Die Traurigkeit seines Gemüts überflutete das kindhafte Gesicht wie ein dunkler Schleier, und am Morgen waren seine Lider durch die während des Schlummers vergossenen Tränen verklebt.
Er wollte zum erstenmal nicht mehr mit dem Pferdchen spielen, sondern kauerte stundenlang ohne Regung auf einem Fleck. Bei jedem Krachen der Treppe schüttelte es ihn, und er schauderte, wenn sich wieder und wieder ein neues Gesicht über der Schwelle zeigte. Zitternd sah er die Menschen an, der Geruch ihres Atems war ihm eine Pein und unerträglich, wenn sie ihn berührten. Am meisten Furcht hatte er vor ihren Händen. Zuerst sah er immer die Hände an, merkte sich ihre verschiedene Gestalt und Farbe, und ehe er sie an seiner Haut spürte, erschrak er schon, denn sie erschienen ihm wie selbständige Geschöpfe, kriechende, klebrige, gefährliche Tiere, deren Tun von einem Augenblick zum andern gar nicht abzuschätzen war.
Nur Daumers Hand, die einzige, deren Berührung angenehm war, war verschwunden. Warum? dachte Caspar, warum war dies alles? Warum das seltsame Getöse von früh bis spät? Woher kamen die fremden Gestalten, warum so viele, und warum war ihr Mund und ihr Auge böse?
Das frische Wasser schmeckte ihm nicht mehr, auch hungerte ihn nicht mehr nach dem gewürzten Brot. In seiner Erschöpfung dünkte ihm mitten am Tage, es sei Nacht geworden, und das Heißgleißende, -funkelnde, von dem man ihm gesagt, daß es der Schein der Sonne sei, wurde vor seinen müden Augen zu purpurnem Dunst. Es beängstigte ihn das Geräusch des Windes, denn er verwechselte es mit den Stimmen der Menschen. Er sehnte sich in die Einsamkeit seines Kerkers zurück; heimweisen war sein einziger Gedanke.
Es war ein Sonntag. Spätnachmittags waren Daumer und Herr von Tucher aus Ansbach wieder angelangt, und in ihrer Begleitung befand sich der Staatsrat von Feuerbach, der sich entschlossen hatte, den Findling selbst zu besuchen und womöglich Klarheit in das unfruchtbare Hinundher von Akten und Erlässen zu bringen. Nachdem er im Gasthof zum Lamm Quartier gemietet hatte, ließ sich der Präsident von den beiden Herren sogleich zur Burg und auf den Turm führen. Es hatte schon neun Uhr geschlagen, als sie dort ankamen. Groß war ihre Überraschung, als sie das Zimmer Caspars leer fanden; die Frau des Wärters erklärte verlegen, ihr Mann sei mit Caspar ins Wirtshaus zum Krokodil gegangen. Der Rittmeister von Wessenig habe nämlich einigen seiner von auswärts zugereisten Freunde den Findling zu zeigen gewünscht, habe heraufgeschickt und befohlen, daß man Caspar bringe.