Schein oder Nichtschein. Kim Bergmann
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Helge hatte schon oft versucht, seinen Onkel dazu zu bewegen, ihn bei einem anderen Namen zu rufen als bei dem, den seine Eltern ihm aufgezwungen hatten, als er sich noch nicht hatte wehren können. Natürlich waren seine Versuche nie von Erfolg gekrönt gewesen.
"Das wäre pietätlos", erklärte Salomo in schöner Regelmäßigkeit streng. "Dein Name ist immerhin das Letzte, was deine Eltern dir noch gegeben haben, bevor..."
Bevor, ja! Bevor sie am Tage von Helges Namensgebungsfest unter dem Zusammenwirken von Alkohol, einer pferdelosen Kutsche, einem Abhang und einer ziemlich dummen Idee tödlich verunglückt waren. Dieser Unfall war nicht einmal völlig absurd gewesen, denn Namensgebungsfeste zeichnen sich auf Glandor durch unbarmherzige Länge aus, da jeder einzelne der zahlreichen Götter persönlich angerufen werden muss, und Trinken ist ein guter Zeitvertreib. Das jedenfalls dachten Helges Eltern sich, bevor sie dann gar keine Zeit mehr zu vertreiben hatten. Die Gäste konnten somit gleich zur Doppelbeerdigung bleiben, und Helge kam unter Mitnahme seines verhassten Namens in die Obhut seines Onkels.
Immer wieder hatte Helge Salomo umzustimmen versucht, weil er es als Strafe empfand, dass er wie ein Mädchen hieß, doch jedes Mal war sein Onkel ihm argumentativ überlegen gewesen: "Hör zu, Junge. Mein Bruder mag ein alter Trunkenbold gewesen sein und deine Mutter ein loses Frauenzimmer, aber sie sind tot, und das macht sie zu besseren Menschen. Wir müssen ihren letzten Wunsch respektieren, und ihr letzter Wunsch war nun einmal, dass du Helge heißen sollst." Dabei schob er die Augenbrauen zusammen und zeigte sein "Schluss-jetzt"-Gesicht. Jedes Mal hatte Helge gedacht, dass der letzte Wunsch seiner Eltern wohl eher in einer halsbrecherischen Rutschpartie bestanden und somit Erfüllung gefunden habe, doch er hatte sich nie getraut, diesem Gedanken Ausdruck zu verleihen.
Seinen Onkel hätte er aus mehreren Gründen gern geändert. Nicht, dass er ihm nicht dankbar gewesen wäre, schließlich hatte Salomo ihn aufgezogen, für ihn gesorgt und ließ ihm nun eine Berufsausbildung angedeihen, und doch... Außer Schuhmachermeister war Salomo auch noch eingefleischter Junggeselle, und diese Kombination hatte offenbar ausgereicht, um einen sehr prosaischen Menschen aus ihm zu machen. Über viele Dinge konnte man mit ihm einfach nicht sprechen, über wichtige Dinge wie halberblühte Rosen, Tautropfen, die im Sonnenlicht funkelten, Sommerwind, der sich im Haar eines Mädchens verfangen hatte... offenbar hatte er keinen Funken Fantasie und hielt das auch noch für eine gute Sache.
Ansonsten war sein Onkel an und für sich ein passabler Kerl. Wenn Helge ihn ansah, musste er zugeben, dass Salomo für einen Mann recht gut aussah. Sein dunkles Haar war noch immer voll, obwohl er doch schon bald vierzig war (in Helges Augen ein geradezu unglaublich hohes Alter), und er hatte scharfe, fast asketische und trotzdem ebenmäßige Züge. Helge störten jedoch die pragmatischen Gedanken, die sich hinter der hohen Stirn bewegten, denn es gab Dinge, die Salomo nie ansprach und die für Helge von größter Wichtigkeit waren. Zum Beispiel, welche Worte das angemessene Kollier ergäben für die unfassbare Schönheit junger Frauen, die halberblühte Rosen mit Tautropfen an ihre Wange hielten und in deren Haaren sich der Sommerwind verfing.
Helge war nämlich ein Poet. Oder wollte zumindest einer werden. Gut, manchmal haperte es noch an seinen Fähigkeiten, doch wie, fragte er sich verbittert, sollte er ein berühmter Dichter werden, wenn er Schuhe besohlen musste? Noch dazu unter Anleitung eines Mannes, dessen interessantestes Gesprächsthema ein neuartiger Leim war? Hier würde sein Talent verkümmern wie eine Blume in der Wüste.
Auch die letzten beiden Punkte auf Helges allmorgendlicher Liste passten nicht so recht zu seinen Wünschen. Gut, er würde nicht immer sechzehn bleiben, doch welches Aussehen erwartete man von einem Hofpoeten - denn das wollte er werden, wenn das Schicksal ihm seinen Traum zubilligte? Helge schwebte dunkel das Bild eines großen, schwarzhaarigen, bärtigen Mannes vor, der sich in kostbare Stoffe hüllte, denn ein guter Hofpoet bekommt schließlich auch eine gute Bezahlung. Der Mann, der Helge gerne wäre, war von kräftiger, sehniger Figur, schließlich war der Hofpoet vorher auf der Suche nach seiner Bestimmung lange Zeit durch die Lande gezogen und hatte keinen Kampf gescheut. Der Hofpoet füllte mit sonorer Stimme riesige Festsäle, und nach jedem Epos wurde ihm tränenreicher Applaus zuteil. Natürlich wurde er von allen Damen des Hofes umschwärmt, doch nie würde er auch nur einer seine Gunst schenken, da sein Herz ganz seiner Königin gehörte, also der Frau seines besten Freundes, des Königs. Selbstredend handelte es sich dabei um eine keusche, reine Liebe, die der Inhalt immer neuer, herzergreifender Sonette wurde.
Immer, wenn Helge an diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt war, hatte er sich fertig angekleidet und stand erneut vor dem Spiegel, der ihm ein Bild zeigte, das mit seinem Fantasieporträt nicht das Geringste gemein hatte. Was ihm da entgegen schaute, war ein schlaksiger Junge, dem sich statt der schwarzen Haarpracht sandfarbenes Gekräusel in das deprimierend glatte Gesicht ringelte. Noch sprachen in den kindlichen Zügen keine markanten Falten von einem gefühlsmäßig entbehrungsreichen Leben, und als kraftstrotzend konnte wohl auch der freundlichste Schwindler Helge nicht bezeichnen. Wie sollte er hier auch Muskeln aufbauen, dachte er mutlos. Der einzige Punkt, der sich tatsächlich ändern würde, war sein Alter. Er würde siebzehn und achtzehn werden, irgendwann mit Mitte zwanzig oder so würde er vielleicht ein Mädchen aus dem Dorf heiraten, dann würden sie für den alternden Salomo sorgen, Kinder bekommen, all die großen und kleinen Sorgen erleben... die Vorstellung war nicht auszuhalten. Was Helge allerdings auch nicht aushalten mochte und was sehr viel näher lag, war eine Standpauke seines Onkels am frühen Morgen, und die würde es sicherlich geben, wenn er sich nicht langsam aufmachte.
Widerwillig zerrte er also das braune Hemd über der braunen Hose zurecht, bevor er sich barfuß auf den Weg zu seinem Onkel machte. Salomo hatte irgendwann die Geduld mit dem Träumer verloren und rigoros erklärt, dass sein Herr Neffe von jetzt an nur noch selbst angefertigte Schuhe tragen werde; so würde er vielleicht endlich lernen, dass die Nägel nicht ins Innere der Schuhe ragen dürfen.
Salomo wurde durch das Trapsen der nackten Füße seines Neffen aus den Gedanken gerissen, die er sich wie so häufig um eben ihn gemacht hatte. Ihr Götter, dachte er ärgerlich, irgendwie muss man dem Jungen das Träumen doch austreiben können! Dann bemühte er sich, eine freundlichere Miene aufzusetzen. Der Junge war ja kein schlechter Kerl, nur eben - abgelenkt. Wovon auch immer, irgendeinem albernen Kram vermutlich, der Halbwüchsige beschäftigt. Das würde sich mit der Zeit schon noch geben, schließlich kann kein Mensch ewig halbwüchsig bleiben. Und Salomo erinnerte sich dunkel, dass er damals auch jede Menge Flausen im Kopf gehabt hatte. Das war noch zu einer Zeit, in der ihm noch gar nicht aufgefallen war, wie aufregend das Schuhmacherleben doch war.
„Morgen, Helge", sagte er also fast freundlich, als sein Neffe die Küche betrat. "Setz dich und iss gründlich, wir haben viel zu tun!" Helge unterdrückte den Impuls zu fragen: "Ach, haben wir das nicht immer?" Stattdessen schaute er aus dem Fenster in die kühl-dunkle Welt hinaus, die notdürftig von einem zunehmenden Mond erhellt wurde, und erwiderte: "Morgen, Salomo! Oder sollte ich sagen: Nacht, Salomo?"
Sein Onkel schob ihm ärgerlich Rührei mit Speck auf den Teller und stellte den Korb mit dem Brot in seine Reichweite. "Rede keinen Unsinn, Junge! Nur weil die Sonne nicht aufgegangen ist, heißt das noch lange nicht, dass es Nacht ist, klar?"
"Warum ist denn die Sonne nicht aufge..." begann Helge, fing dann aber den Blick seines Onkels auf und beschäftigte sich umgehend mit seinem Frühstück. Doch auch während er den Kopf gesenkt hielt und konzentriert Butter auf sein Brot strich, umgab ihn die Wissbegierde fast wie eine Aura.
Salomo schaute seinem Neffen eine Weile düster auf den sandfarbenen Scheitel und rang sich dann zu einem Entschluss durch. "Hör zu", knurrte er, "bevor du mich jetzt den ganzen Tag löcherst: Ich habe keine Ahnung, warum die Sonne nicht aufgegangen ist, und so sehr interessiert es mich auch nicht. Wenn es irgendjemand weiß, dann wird er es wohl erzählen. Und bis dahin, Junge, machen wir weiter wie bisher, denn Mutmaßungen bringen uns gar nichts außer Zeitverlust." Er seufzte, und entgegen