Mellow Tior. Shey Koon
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Schlagartig war ihr bewusst, dass für Mellow nun eine schicksalhafte Wendung angebrochen war. Er befand sich in großer Gefahr. Der ahnungslose Junge schmiegte derweil sein Gesicht in den weichen, mit silbernen Engeln bestickten Kissenbezug. Geräuschlos verließ Aurilia das Zimmer. „Wie kann das sein? Unmöglich. Das darf nicht sein.“, stammelte sie fassungslos. Sie huschte eiligst in den ersten Stock des Hauses. Ständig drehte sich dabei nach allen Seiten um, vergewisserte sich, dass sie nicht verfolgt wurde. Aurilia strich mit ihren Fingerspitzen über die lange Wand, solange bis die gesamte Seite im glühenden Licht erstrahlte. Nochmals suchte sie prüfend ihre Umgebung ab, bevor sie hinter dem » Tor des Moooo « verschwand. Mellow hingegen träumte längst, dass er an einen weiten goldenen See mit einer spiegelglatten Oberfläche stand. Das gegenüberliegende Ufer war für ihn nur an den strahlend bunten Farben zu erkennen, die verlockend zu ihm herüber blitzen. Der stille See glitzerte im gleißenden Glanz des Goldes und blendete ihn so stark, dass er gezwungen war, seine Augen soweit zuzukneifen, bis er nur noch durch einen schmalen Schlitz hindurch blinzeln konnte. Er verharrte, ließ seinen Blick geduldig über den geruhsamen See schweifen. Er war nicht zum ersten Mal an diesem geheimnisvollen Ort. In seinen Träumen hatte er schon etliche Male diese Stelle besucht, nämlich immer dann, wenn er zuvor die fallenden Sternschnuppen am Himmel bewundert hatte. Sobald er all seine Aufmerksamkeit bündelte, nahm er ein Flirren wahr, das blitzartig über den See dahinglitt. Schemenhafte Figuren tanzten gleichsam wie eine gespenstische Fata Morgana über das Gold. Sogar an seiner Haut spürte er das Vorbeihuschen der schleierhaften Wesen. Eine kleine Ewigkeit könnte er hier verbringen, wenn ihn nicht die Realität wieder einholen würde.
„Tok, tok, tok.“ Großmutter Auri, wie er sie auch liebevoll nannte, klopfte an die Zimmertüre.
„Komm frühstücken du Schlafmütze! Los, beeile dich! Der Tag ist noch frisch und der Kakao warm.“
Mellow zog sich widerwillig die Bettdecke über den Kopf und lugte müde hervor. Jedoch, Aurilia blieb hartnäckig.
„Komm schon du Träumer, steh endlich auf!“
Mühselig schlupfte Mellow unter der warmen Decke hervor, zog sich seine himmelblauen Pantoffeln an, und schlurfte nach nebenan, in die Küche. Der Geruch von gebratenen Kartoffelecken drang ihm in die Nase und sofort lief ihm das Wasser im Mund zusammen, was er auch sogleich ausposaunte. Denn das war nun einmal seine Lieblingsspeise. Davon bekam er nie, nie, niemals genug. Blitzartig erwachten seine Lebensgeister. Mit einem langen Satz hüpfte er auf den langbeinigen Hocker am Küchentisch, direkt neben dem Herd, griff gierig nach der Gabel und klopfte ungeduldig gegen den gähnend leeren Teller. Aurilia wuschelte Mellow über das silberne Haar, das abermals für einen kurzen Moment aufleuchtete. Mellow schüttelte sich, zupfte sich seine silberne Strähne aus der Stirn.
„Großmutter Auri, 97 Schnupps habe ich heute Nacht gezählt. So
viele hatte ich bisher noch nie gesehen.“
Nachdem er einen kräftigen Schluck süßlichen Kakaos getrunken hatte, wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab.
„Zumindest nicht in einer Nacht.“
„Ja Mellow, das ist ziemlich selten, aber nicht ungewöhnlich. Kein Grund sich zu Sorgen.“
Aurilia kehrte ihm den Rücken zu, atmete schwermütig und zog ihre linke Augenbraue hoch, während sie die brutzelnden Kartoffelecken auf den Teller drapierte. Mellow verputzte hungrig die erste Portion. Aurilia füllte den Teller abermals.
„Poch, Poch, Poch.“ Laut klopfte es an die Fensterscheibe. Minja, ein pummeliges Mädchen mit nussbraunem kurzem Haar spähte herein. Sie war um einiges größer als Mellow, sah in ihren Bewegungen dennoch unbeholfen und tollpatschig aus.
„Mmmmh, das riecht lecker. Da läuft mir ja das Wasser im Mund zusammen!“, rief Minja aufgeregt in die Küche.
Aurilia forderte sie mit einem Schmunzeln auf, einzutreten.
„Das hatte ich eben schon einmal gehört.“
Minja, die gerne reichlich aß, ließ sich nicht zweimal bitten und flitzte eiligst herbei.
„Morgen Mellow, du Schlafmütze. Noch nicht lange wach, oder?“
Mit einem Schulterklopfen begrüßte sie ihren besten Freund,
nahm am schmalen Küchentisch Platz, und Aurilia brachte ihr einen Teller und das Besteck.
„Du hast bestimmt großen Hunger.“
Mit einem erheiterten Blick musterte Aurilia Mellows Freundin.
„Du bist ja schon wieder um einiges gewachsen.“ Minja nickte lächelnd, kniff wohlwollend in ihren fülligen Bauchspeck und stibitzte Mellows Teller. Minja durfte das. Sie kannten sich schon seit der frühesten Zeit im Sandkasten. Unzählige Abenteuer hatten sie erlebt und waren Freunde fürs Leben geworden. Minja schmatze laut, leckte sich wie eine verfressene Katze die Lippen. Aurilia reichte eine weitere Pfanne knusprig Gebratenes zu ihnen herüber, mit dem Ergebnis, dass sich die beiden maßlos überfraßen. Nach dem ausgiebigen Festmahl fläzten sie sich mit ihren kugelrunden Bäuchen auf den Hockern und grienten zufrieden.
„Na, was stellt ihr heute an?“, fragte Aurilia interessiert nach, wohlwissend, dass beide eh nur ihre Schultern zuckten, einen ahnungslosen Blick aufsetzten und sich schnellstens aus dem Haus trollten.
„Minja, komm mit mir! Wir holen uns die goldene Farbe und ein paar Pinsel.“ Er lotste Minja rüber zur Garage, überreichte ihr den vorbereiteten Beutel und schnappte sich den schweren Werkzeugkasten. Sie konnten es kaum mehr erwarten.
Unweit des Dorfes Nuckelon, in dem Mellow und Minja aufwuchsen, befand sich ein Abenteuerspielplatz. Schon seit etlichen Generationen spielten hier die kleinen Buben und Mädchen aus dem nahen Dorf. Die Kinder buddelten mit ihren Spielzeugschaufeln im Sandkasten, rutschten belustigt auf der blauen Rutsche hinunter oder kletterten mutig, wie die kleinen Äffchen, auf den Klettergerüsten. Mellow und Minja hatten tags zuvor, ganz in der Nähe, durch einen glücklichen Zufall während des Ballspielens einen Unterschlupf gefunden. Es war allem Anschein nach, ein ehemaliger Lagerraum für die Dorfbewohner gewesen, der aber längst in Vergessenheit geraten war. Mellow hatte sich auf der Jagd nach dem Ball in das dichte Gestrüpp gezwängt und dabei die moosbesetzte Türe bemerkt. Die klebrigen Spinnenweben verliehen dem Eingang ein düsteres Aussehen, doch ihre Neugierde besiegte die Furcht. Mit aller Kraft hatten sie solange an der Türe gerüttelt, bis sie endlich offenstand. Wie die Detektive schlichen sie jede einzelne Stufe des schmalen Ganges hinunter und verschwanden in einem verstaubten Kellerraum. Jedoch, sie fanden einzig und allein zwei morsche Hochbetten und ein Dutzend klapprige Stühle vor. Für Minja war es augenblicklich klar gewesen, hier wünschte sie sich häuslich einzurichten. Sie wohnte zwar bei ihrem Onkel Klaus, der aber beruflich, oft für viele Wochen am Stück, auf Reisen war. Er beriet namhafte Firmen beim Verkauf von Spielzeug. Sie hatten beschlossen den Kellerraum zu ihrem geheimen Unterschlupf umzubauen und gemütlich einzurichten. Zuallererst reparierten sie eifrig die instabilen Hochbetten, schraubten und hämmerten, verpassten ihnen mit goldener Farbe einen glänzenden Anstrich. Mit dem Werkeln waren sie bis in die Nacht hinein beschäftigt, doch sowie die Dunkelheit hereinbrach, trugen sie die alten Stühle aus dem neuen Quartier und verteilten diese wahllos im gesamten Dorf. Es war die einfachste Art alles Unbrauchbare schnellstens loszuwerden. Bei Minja standen zuhause im Keller zwei königsblaue Ohrensessel, die sie sich fraglos einverleibten, und eine blaue Ledercouch, die vorzüglich in ihr Versteck passen würde. Sie holten den hölzernen Transportwagen aus der Garage von Onkel Klaus und im Schutz