Geboren im Jahr 1933. Georg M Peters
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Für mich waren noch andere Momente interessant. Etwa wenn er in seinem Sessel vor dem Fenster saß, die Wohnung war im Hochparterre, und ich mit meinen kurzen, ausgestreckten Beinen auf der Fensterbank. Unten, auf der gegenüber liegenden Straßenseite war ein Park, der zu einem Altersheim gehörte. Beim Aus-dem-Fenster-schauen hatten wir in dem Park eine alte Frau beobachtet, die dort spazieren ging. Da mein Opa alles wusste, fragte ich ihn, wer das sei. Er erklärte mir, das sei das „liebe Lieschen“. In Hamburg gab es einen entsprechenden Ausspruch. Wenn man etwas Kaffee verschüttet hatte, dann pflegte man zu stöhnen, „ach du liebes Lieschen!“ Und hier hatte ich das liebe Lieschen nun tatsächlich vor Augen. Von da an galt ihm mein Hauptinteresse. Wenn ich bei meinem Großvater war, wollte ich alles über das „liebe Lieschen“ wissen, vor allem, wann es wieder vorbeikommen und zu sehen sein werde. Irgendwie hat er es jedesmal geschafft, meine Neugier zu befriedigen. Ich war dann beruhigt und wartete voller Neugier auf die nächste Begegnung mit dieser interessanten Dame.
Noch eine andere Sensation erwartete mich jedesmal bei meinem Großvater. Er hatte einen mehrbändigen Sammelband von einer Zeitschrift aus dem ersten Weltkrieg. Ich weiß noch, dass sie auf dickem, wahrscheinlich schlechtem Papier gedruckt war, und zwar in drei Farben – schwarz, weiß und rot. Rot vor allem für Fahnen, Feuer und für Blut. Es waren Texte und Zeichnungen, die das Kriegsgeschehen illustrierten – Schützengräben, Verwundete, Panzerangriffe, Revolutionsszenen. Wenn ich zu meinem Großvater kam, ließ ich mir einen dieser Bände geben und studierte ihn eifrig. Verstehen konnte ich nichts, aber die Bilder faszinierten mich.
Doch diese aufregende Zeit nahm ein plötzliches Ende und zwar durch das Eingreifen meiner Mutter. Eines Tages, als ich wieder nach einem Bildband verlangte, konnte mein Opa den Schlüssel für die Glastür nicht finden. Ich glaubte zunächst, dass er ihn sicherlich bei meinem nächsten Besuch wieder zur Hand haben würde. Er fand ihn leider niemals wieder, und das erfüllte mich mit großer Traurigkeit – als ob mir ein Lebensfaden abgeschnitten worden wäre. Und gleichzeitig noch ein zweiter! Denn urplötzlich wusste mein Opa angeblich nichts mehr über das „liebe Lieschen“ zu sagen. Das war eine ebenso große Enttäuschung. Es entstand das Gefühl einer großen Leere in mir. Ich hatte natürlich keinerlei Erklärungsmöglichkeit dafür. Erst fünfzig Jahre später ist mir klar geworden, dass meine Mutter die Hand im Spiel gehabt haben muss. Die war voller Ehrgeiz in Bezug auf ihren Sohn und hat meinem Großvater wahrscheinlich die Leviten gelesen. Dass er ihren Sohn nicht mit Informationen füttern solle, die seinem Alter nicht angemessen oder unsinnig sind. Die schöne Kommunikation zwischen meinem Großvater und mir war damit zuende. Ich nehme an, sie hat ihm ebenso viel Spaß gebracht wie mir, da er seine Phantasie dabei frei entfalten konnte.
Die Beziehung zur Mutter
Die Beziehung zu meiner Mutter war weniger erfreulich. Zu meinen Verbrechen gehörte, dass ich gelogen hätte. Ich wusste nicht und weiß auch heute nicht, inwiefern ich gelogen hätte, aber meine Mutter war davon überzeugt und verurteilte mich zu einer Strafe. Die Strafe bestand üblicherweise aus Prügeln mit einer Rute. Da gab es zwei Abstufungen: Prügel auf den Hosenboden oder auf das nackte Hinterteil – zu vollziehen durch den Vater. Ich wusste, wann mein Vater aus dem Büro kommen würde und ging ihm entgegen in der Hoffnung, ihn noch umstimmen zu können. Natürlich musste ich ihm den ganzen Sachverhalt, von der Lüge, derer ich mir nicht bewusst war, bis zu der verhängten Strafe erklären. Doch er war unerbittlich. Da die Mutter die Strafe verhängt hatte, musste sie vollstreckt werden. Und das geschah dann auch. Bei einem anderen Delikt, an das ich mich nicht erinnern kann, bestand die Strafe aus dem Entzug des Nachtisches nach dem Sonntagsessen. Voller Sorge erwartete ich den Sonntag, in der Hoffnung, man werde sich nicht mehr an die Strafe erinnern. Doch gefehlt! Meine Eltern und meine Schwester erhielten ihren Nachtisch, und ich ging leer aus. Während sie ihren Nachtisch verzehrten, fragte ich, ob ich schon auf die Straße gehen dürfe. Meine Mutter: „Ach wie niedlich! Der Junge kann nicht ertragen, wie wir unseren Nachtisch essen.“ Meine Frage, ob ich von der Tafel vorzeitig aufstehen dürfe, war in meinen Augen ein beispielloser Akt der Auflehnung. Aber als Reaktion darauf nur die höhnische Bemerkung meiner Mutter! Ich weiß noch, wie ich die Treppe hinabstieg, und in mir eine Wut aufstieg, wie ich sie noch nicht kannte. Die wollte explodieren. Auf der Straße war ich alleine und spielte mit Steinen. Dabei nahm ich mit der rechten Hand einen Stein und schlug ihn auf den anderen Stein, auf dem meine linke Hand lag. Ich traf den Ringfinger. Es gab einen Bluterguss. Später löste sich der Fingernagel ab und es wuchs ein neuer Nagel nach. Man erkennt ihn heute noch, weil er etwas länger ist als die anderen. Ich nehme an, dass es meine Wut war, die sich dabei in selbstschädigender Absicht entladen hat.
Onkel Georg in Chemnitz
1941 wurde ich nach Chemnitz zu Onkel Georg, einem Cousin meines Vaters, gebracht, um vor Bombenangriffen sicher zu sein. Das Haus von ihm und seiner Frau stand am Stadtrand auf einem kleinen Grundstück mit Garten und Stall. Darin hielten sie Hühner und Enten. Schöne Monate waren dies! In Erinnerung geblieben ist mir der unvergleichliche Kunsthonig – dünn-flüssig, durchsichtig, golden-gelb. Nie wieder habe ich vergleichbaren Honig gegessen. Ich hatte meine Laubsäge aus Hamburg mitgebracht. Oft saß ich am Küchentisch und sägte eine vorgezeichnete Figur aus, die ich hinterher anmalte. Alle meine Verwandten und die Freunde meiner Eltern waren bereits mit Schlüsselbrettern ausgestattet, die ich mit viel Mühe ausgesägt hatte. Unangenehm war, dass die Schraubzwinge, mit der ich mein Arbeitsbrett am Küchentisch festklemmte, aus minderwertigem Kriegsmaterial bestand. Sie gab unter dem Druck der Säge nach, das Sperrholz, das ich bearbeitete, stellte sich schräg und das Sägeblatt klemmte fest - eine Quälerei! Oft brach das dünne Sägeblatt durch, und ich musste ein neues Blatt einsetzen oder die nötige Exkursion starten, um irgendwo ein Bündel neuer Sägeblätter zu erwerben. Ich bekam die Blätter, aber sie waren stets von einer etwas anderen Sorte. Die spannende Frage war dann, wie sich die neue Sorte bewähren würde. Ich verband solche Exkursion jedesmal mit dem Gang zu einer der vielen Tischlereien, die ich kannte, und wo es angenehm roch. Ich fragte dort, ob ich etwas Sperrholz bekommen könne. Die Tischler waren meistens freundlich und suchten aus ihren Sperrholzresten passende Stücke für mich aus.
Im Haus von Onkel Georg befand sich die Toilette direkt über der Jauchegrube. Aber die Grube lag tief, und in der Toilette war es keinesfalls ungemütlich. Die Sitzfläche war eine sehr lange und breite Lage aus blank gehobeltem und stets blitzsauberem Holz. Dahinter erhob sich ein sehr breites und hohes Fenster, durch das nach meiner Erinnerung fast immer die Sonne schien, die den Raum mit Licht und Wärme füllte. Eine Woche lang war ich krank. Ich wurde in der Küche auf die Couch gebettet, wo Onkel Georg und seine Frau mich sehr fürsorglich gesund pflegten. Nach der Exkursion mit einem Nachbarjungen kam ich nach Haus und stolperte auf dem Weg durch den Vorgarten. Der Weg war mit Schlackensteinen ausgelegt, und als ich aufs Knie fiel, riss ich mir an einer scharfen Kante eine klaffende Wunde. Wir Jungen trugen damals stets kurze Hosen. Deshalb war die Wunde gut sichtbar. Onkel Georg fuhr mit mir zum Arzt in der Stadt, der die Wunde versorgte und mit einigen Klammern verschloss. Später mussten wir ihn noch einmal aufsuchen, um die Klammern entfernen zu lassen.
Eines Tages lieh ich mir heimlich den hölzernen Blockwagen meines Onkels aus, weil der Nachbarjunge und ich damit einen kleinen Ausflug machen wollten. Der kannte am Ortsrand eine abschüssige Straße, die sich für eine