Flut über Peenemünde. Rainer Holl
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Den Flug der ersten Rakete in den Weltraum sahen sie von hier aus nicht mehr, denn solche Höhe überstieg ihre Möglichkeiten bei Weitem.
Aufmerksam betrachtet er das einzelne Wesen am Ufer des Peenestroms, genau an dem Platz, der ihm gerade erst eine neue Erfahrung über mögliche Beute gebracht hatte.
Das verwirrt ihn auf ähnliche Weise wie Tage zuvor die vielen Menschen am Rande des Flugplatzes. Im großen Bogen flog er damals über die verdächtige Stelle. Schrille, einige Minuten andauernde unbekannte Geräusche hatten ihn dann erschreckt. Schnell war er zu seinem Horst zurückgekehrt, konnte sich nur langsam wieder beruhigen.
Deshalb sah er nicht, wie danach ein einzelner Mann, der das Treiben aus einem Versteck beobachtet hatte, den Weg zum Wald in Richtung Ostsee einschlug. Er kannte jeden Meter, denn einst war er hier der Hausherr.
Zielstrebig marschierte der Mann zum Schilfgürtel an der Ostsee, glaubte sich unentdeckt.
Unverhofft wurde er eines besseren belehrt, als ihm jemand von hinten ein Tuch auf das Gesicht presste und Sekundenbruchteile später zwei kräftige Arme schraubstockgleich seinen Körper bewegungsunfähig machten. Als ihm dann Schlaufen um die Fußgelenke gelegt wurden, war er schon tot. Sein Mörder zog ihn hinter sich her wie einen Baumstamm, wählte den Weg durch das Schilf ins flache Wasser der Ostsee.
Am folgenden Tag, dem 4. Oktober 2012, meldete Ingrid Bornhöft ihren Mann Dieter, den früheren Kommandeur des Jagdfliegergeschwaders in Karlshagen, als vermisst. Die sofort eingeleitete Suche blieb eine erfolglose Formsache, denn niemand wusste, wo er zu finden sein könnte.
2 Mittwoch, 31. Oktober, 11.30 Uhr
Die hohen Bäume hielten mühelos dem stärker werdenden Wind stand, bildeten eine schwankende, rauschende Kulisse, die mit herbstgefärbten Blättern durchsetzt wurde. Dunkle Fichten und breit ausladende Buchen wechselten sich mit meterhohen Betonresten ab. Ein Gemisch aus dicht gewachsenen Sträuchern, wassergefüllten Gräben und sumpfigem Waldboden unmittelbar neben dem Weg machte Verbotsschilder überflüssig.
Pia Bergner nahm mit ihrem Fahrrad auf den holprigen, jahrzehntealten Betonschwellen die unmittelbare Umgebung als einengende Bedrohung wahr und fühlte sich dennoch wie von einem Magnetfeld angezogen. Eine diffuse Furcht, die sie längst in der Kammer ihrer Kindheit eingeschlossen glaubte, kämpfte gegen die unüberwindliche Magie der Geschichte.
Das gesamte Gebiet war für die Öffentlichkeit gesperrt. Im Entdeckungsfall würde sie sich auf ihren Status berufen, auch wenn sie aus ihrer Wahlheimat Schweden nur zu einem Praktikum an das Museum Peenemünde gekommen war.
Kurz vor Ende ihres vierten Lebensjahrzehntes stehend, hatte Pia das Ebenbild einer dieser energischen Frauen in den nordischen Ländern angenommen, deren Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfundfünfzig Jahren schwer zu schätzen ist. Mittelblonde halblange Haare passten sich der schlanken Figur an. Das ebenmäßige Gesicht verbarg die Enttäuschungen ihres Lebens, Optimismus und Zuversicht sorgten regelmäßig für einen Ausgleich und gewannen schließlich die Oberhand über ihre von ersten Falten geprägten Züge.
Nicht lange nach dem achtzehnten Geburtstag war sie, die gerade offen werdende Grenze nutzend, aus ihrem Wohnort nahe der deutschen Ostseeküste aus erdrückender häuslicher Enge nach Schweden geflüchtet.
Die Gedanken an ihre Heimat wurden danach dominiert von den Beziehungen zu ihrer Mutter, die sie allein im Haus zurückließ und nur ein einziges Mal besuchte – an ihrem Sterbebett wenige Monate zuvor. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, und erst beim letzten Besuch seinen Namen erfahren. Schon bald darauf wurde Pia in eine neue Gefühlswelt hineingeschoben. Der Zwang zur Rücksichtnahme und das schlechte Gewissen, die Mutter verlassen zu haben, lösten sich auf.
Die Kehrseite war eine plötzliche Leere. Immer öfter kam sie sich vor wie ein namenloses Sandkorn am Ostseestrand, an dem sie einst entstanden war. Pia spürte den Drang, sich neu zu orientieren, sehnte sich nach einer erfüllenden Aufgabe für ihr Dasein. Seit einigen Wochen glaubte sie, zumindest den Weg dorthin gefunden zu haben.
Der führte für sie an diesem Tag zunächst direkt in die Geschichte: zum Prüfstand VII der ehemaligen Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Von hier aus startete 1942 die Rakete A 4 erstmals bis an die Grenze des Weltraums. Unter dem Namen Vergeltungswaffe (V) 2 sollte sie den deutschen Sieg aus dem Feuer reißen, kam dazu jedoch zu spät.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zum weltweiten Vorbild für alle Raketen, auch zum Kristallisationskern für den Mondflug. Die noch erkennbaren Reste des legendären Raketenstartplatzes waren das Ziel aller Peenemünde-Enthusiasten.
Pias freudige Erwartung, endlich diese Stelle persönlich hautnah zu erleben, wurde durch die gespenstische Umgebung getrübt. Ehrfurcht gebar gleichzeitig Distanz. Sie fühlte die Last der damaligen Epoche, kam sich vor wie ein unerwünschter Eindringling in eine Dimension, die an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft stieß.
Pia rief sich den Beginn ihres Interesses für Peenemünde ins Gedächtnis, der nur wenige Monate zurücklag. Von einem jungen Mann hörte sie die unglaubliche Geschichte einer im Juni 1944 über Schweden abgestürzten Rakete A 4, nur wenige hundert Meter neben dem Hof seiner Familie, in einem kleinen Dorf mitten im Wald. Seitdem fühlte Pia sich von diesem Thema gefangen und umarmt, genau wie von Nils in den verschiedenen Momenten ihrer leidenschaftlichen Begegnungen. Beides verschmolz zuweilen sogar, ohne dass Pia es wahrnahm.
Sie war gefesselt davon, mit welcher Begeisterung Nils Pettersson von diesem Ereignis berichtete, das seine Familie hätte auslöschen können. Er sah nur die technische Leistung, ein Fluggerät über eine solche Entfernung schießen zu können.
Als Erste in der Welt.
Und ausgerechnet neben den Hof seiner Familie.
Nun war Pia an der entscheidenden Wegbiegung angekommen, stieg ab und lehnte das Fahrrad an einen Baum. Langsam bewegte sie sich zu Fuß weiter, blickte dabei auf die Skizze, die den Ort zu seiner aktiven Zeit darstellte.
Ein mit Wasser gefüllter, der Natur überlassener Betongraben begrenzte den Weg zur Linken. Deutlich erkennbar die Reste des irdenen Dammes, der den gesamten Prüfstand einst umgab. Bei jedem Schritt fühlte Pia eine Furcht, etwas von dieser so tot und unbeweglich erscheinenden und dennoch auf ganz eigene Art überlebenden Vergangenheit zu zerstören.
Wie ein Fremdkörper ragte der granitene Gedenkstein empor, auf dessen Vorfläche frische Blumen lagen. „Abschußstelle der A 4-Raketen“, so die nüchterne Inschrift. Darüber eine stilisierte Rakete.
Pia ließ die Umgebung auf sich wirken, schloss dann die Augen. Sie blickte erneut auf das Papier und wandte sich in Richtung des Strandes, der von dieser Stelle nur zu erahnen war. Nach wenigen Metern erreichte sie den Waldrand. Ihr Blick reichte über eine ausgedehnte Schilffläche auf das Wasser der Ostsee. Zum Greifen nahe stand die Insel Oie mit dem Leuchtturm wie ein Wächter im Meer.
Der heikle Auftrag ihres schwedischen Mentors Rune Alfredsson drängte sich in den Vordergrund. Denn es war genau diese Richtung, in der sich einer seiner „Wünsche“ nach brisanten, bisher nur gerüchteweise vorliegenden Informationen befinden sollte. Der pensionierte Mitarbeiter des schwedischen Luftwaffenmuseum in Linköping hatte ihr nicht nur das Praktikum mit einer offiziellen Legende verschafft, sondern sie mit Aufgaben versehen, deren Tragweite Pia nur schwer abschätzen konnte. Sie waren ebenso lichtscheu wie die vielen Raubgräber in Peenemünde. Die