Flut über Peenemünde. Rainer Holl
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Hans Waldeck versuchte, seine Gedanken zu ordnen, zwang sich zur Ruhe, strich seiner Hündin über Kopf und Rücken.
Plötzlich erschrak er und blickte sich hastig um. Wenn nun…
Hans schoss durch den Kopf, die Person, die für die Leiche verantwortlich war, könnte noch in der Nähe sein und ihn beobachten.
Aber Dina zeigte keinerlei Anzeichen dafür, dass ihre empfindliche Nase die Witterung eines anderen Lebewesens wahrgenommen hätte. Das beruhigte Hans schließlich. Er war es gewöhnt, in allen Situationen selbständig zu handeln. Doch nun fühlte er sich herausgefordert. Er nahm sein Mobiltelefon aus der Innentasche der winddichten Jacke und wählte die 110. Nach dem Telefonat blieb ihm nichts übrig, als der Bitte des Beamten zu folgen und an Ort und Stelle zu warten.
Erste Überlegungen suchten sich den Weg, er versuchte, eventuelle Zusammenhänge herzustellen. Doch auch ein nochmaliges vorsichtiges Ableuchten der Leiche mit der Taschenlampe brachte kein Ergebnis. Er wusste nicht, wer die tote Frau war. Hans Waldeck hatte den Berufsweg eines Offiziers hinter sich, das Sterben war dabei immer gegenwärtig. Der Tod des Gegners, des Kameraden, der eigene – obwohl der Verdrängungsreflex immer besser funktionierte. In seinen fünfundzwanzig aktiven Dienstjahren hatte Oberstleutnant a.D. Hans Waldeck nicht einen einzigen Toten zu Gesicht bekommen.
Und nun die Frau ohne Gesicht. Hilflos.
Endgültig.
Zu den Tieren, die durch Schüsse aus seinem Jagdgewehr ihr Leben beendeten, zog Hans Waldeck keinerlei Parallelen. Ihn bedrückte am meisten, dass er in dieser Situation nichts unternehmen konnte und durfte. Auch Dina war verunsichert, schmiegte sich leise jaulend an die Beine ihres Herrn.
Eine knappe halbe Stunde später näherten sich zwei Fahrzeuge. Hans gab wie vereinbart Lichtzeichen, die Polizeifahrzeuge hielten, die Beamten stiegen aus, nahmen die Personalien des Zeugen auf und baten ihn, noch zu warten. Dann nahmen sie den Fundort in Augenschein und sperrten ihn weiträumig ab.
Nach wenigen Minuten stellte sich einer der Beamten, kaum älter als dreißig Jahre, als Hauptkommissar Arne Bock vor.
„Herr Waldeck, ich denke, wir nutzen die Gelegenheit und Sie beantworten mir gleich einige Fragen zum Fund der Leiche.“
Sie setzten sich dazu in eines der beiden Einsatzfahrzeuge.
Der Kommissar hatte mit gemischten Gefühlen diesen unerwarteten Einsatz am späten Abend aufgenommen. Er konnte dafür zwar eine Verabredung nicht einhalten, fühlte sich jedoch herausgefordert, denn Leichenfunde waren in dieser Gegend fernab von den Metropolen nicht gerade alltäglich.
Er taxierte den Jäger unverhohlen und versuchte, ihn in eine seiner bevorzugten Kategorien einzuordnen. Dabei bemerkte er, wie sein Gegenüber ihn ebenfalls eindringlich musterte. Bock entschloss sich zu einer betont sachlichen Strategie, baute auf die Bereitschaft des Zeugen.
„Schildern Sie bitte zunächst genau, wie Sie die Leiche gefunden haben.“
Hans Waldeck begann eine ausführliche Beschreibung seiner Pirsch. Bock unterbrach ihn nicht, obwohl er manchmal kurz davor war, den Redefluss des Jägers zu kanalisieren. Erst am Ende fragte der Kommissar nach.
„Ihr Jagdrevier ist doch bestimmt ziemlich groß“, was Waldeck durch ein Nicken bestätigte. „Wie oft sind Sie denn hier unterwegs? Und wann war es das letzte Mal?“
Hans Waldeck überlegte nur kurz. Er war ein sehr genauer Mensch und führte Buch über seine Pirschjagden. „Das war vor genau drei Wochen, aber leider erfolglos.“
„Können es auch vier Wochen gewesen sein? Vielleicht am dritten Oktober?“
Aus der Reaktion auf solche Überraschungsfragen hatte Bock schon oft neue Erkenntnisse gewinnen oder die Befragten verunsichern können. Schließlich war an dem betreffenden Tag ein Mensch verschwunden. Doch dieses Mal hatte er kein Glück. „Ausgeschlossen, da war ich gar nicht auf der Insel.“ Hans Waldeck blickte den Kommissar fragend an, der aber darauf nicht reagierte.
„Gut.“ Arne Bock ließ offen, ob er Waldeck glaubte und fragte weiter. „Ist Ihnen während des Weges hierher etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Nein, gar nichts. Die Leiche ist ja offensichtlich an den Fundort transportiert worden, was sich aus der Befestigung am Busch schließen lässt. Und die Zufahrt ist für jeden erreichbar, die Einheimischen kennen den Weg zum Nordstrand.“
Bock lächelte innerlich über den Hobbydetektiv, der offenbar vor ihm saß. Der erste Eindruck sprach für übereifrig.
„Haben Sie Ihr Haus zu Fuß verlassen?“
„Nein, da würde ich zu viel Zeit verlieren. Ich bin mit dem Auto bis zum Peenemünder Hafen gefahren, zur nördlichen Zufahrt. Außerdem muss ich ja meine Strecke“, er hielt kurz inne, und übersetzte dann aus der Jägersprache, „also meine Jagdbeute irgendwie transportieren.“
„Haben sie vielleicht während Ihrer Pirsch Fahrzeuggeräusche aus Richtung der Fundstelle gehört, oder ist Ihnen auf dem Weg zum Hafen ein Fahrzeug entgegengekommen?“
„Nein, auch da muss ich Sie enttäuschen. In der kurzen Zeit, die ich von Peenemünde bis zum Abzweig Richtung Hafen brauchte, habe ich überhaupt kein Fahrzeug gesehen. Und während der Jagd ist mir aus Richtung Nordstrand keinerlei Geräusch aufgefallen. Auch meiner Dina nicht.“ Bei diesen Worten klopfte Hans Waldeck der neben ihm sitzenden Hündin anerkennend auf die Schulter.
Bis hierher entsprachen die Antworten durchaus den nicht sehr hohen Erwartungen des Kommissars, der die nächste Frage nach kurzem Zögern anschloss.
„Wer wusste davon, dass Sie heute zur Jagd gehen würden?“.
Hans Waldeck überlegte bei dieser Frage.
„Meine Frau natürlich, und wie üblich der Revierförster. Um unerwünschten Überraschungen vorzubeugen, informiere ich ihn jedes Mal, meist im Laufe des jeweiligen Tages.“
„Sagen Sie ihm auch, wohin genau Sie gehen werden?“
„Ja, soweit ich das vorher absehen kann. Manchmal wechsle ich auch den Standort im Laufe der Pirsch. Das ist wie beim Pilze sammeln. Sammeln Sie Pilze?“ Bock war viel zu sehr auf die Befragung konzentriert, um darauf einzugehen.
„Wenn jemand sieht, dass Sie um diese Zeit das Grundstück mit dem Auto verlassen, kann er sich dann denken, wohin Sie fahren?“
Endlich begriff Hans Waldeck. „Sie meinen, mich könnte jemand beobachtet haben?“
„Genau das meine ich. Und?“
„Schon möglich“, sagte Hans leicht zögernd und dachte darüber nach, wer ihm vor der Abfahrt über den Weg gelaufen war. Seine Augen verrieten jedoch nichts.
„Darauf habe ich nicht geachtet. Natürlich geht der normale Mensch nicht davon aus, unter Beobachtung zu stehen.“
Der normale Mensch sicher nicht, dachte Bock aus einer Eingebung heraus.
„Auch wenn die Frage angesichts des Zustandes der Leiche makaber klingt, haben Sie den Eindruck, diese Frau gekannt zu haben?“
„Nein,