Flut über Peenemünde. Rainer Holl

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Flut über Peenemünde - Rainer Holl

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alle Möglichkeiten offen bleiben. Die Frau kann ja schließlich auch gestürzt sein.“

      Siegfried Reuschel pflegte den Ruf eines Querulanten, der selbst nahe liegende Tatsachen immer wieder in Frage stellte. Seine Kollegen bekamen den Eindruck, er mache das aus Prinzip, um Aufmerksamkeit zu erregen. Manche schoben es darauf, dass er mit allen Karriereambitionen mehr oder weniger freiwillig abschließen musste und sich in den zehn verbleibenden Jahren bis zu seiner Pensionierung etwas Narrenfreiheit leisten wollte. Als Ausgleich für verpasste Chancen, denn 1989 stand er auf dem Sprung zu höheren Aufgaben bei der Bezirksbehörde der Volkspolizei. Andererseits war er bemüht, den Bogen nicht zu überspannen und seinen Status aufs Spiel zu setzen. Und damit sein erst vor wenigen Jahren bezogenes Eigenheim an der Wolgaster Spitzenhörnbucht, mit einem unvergleichlichen Blick auf Peenestrom und Klappbrücke.

      Arnes Strategie war es, die positive Seite dieser Pedanterie zu nutzen, den Genauigkeitswahn. Wenn möglich vermied er unnötige Konfrontation, hatte schon mehrfach durch Ignorieren so manche destruktive Äußerungen von Siegfried Reuschel ins Leere laufen lassen. Eine persönliche Beziehung konnte er bisher zu Siegfried nicht herstellen, zu oft musste er die kleinen Nadelstiche gegen seine Autorität abwehren.

      „Gut, wir kommen hier nicht weiter und müssen warten, bis die Identität der Leiche festgestellt wurde. Und das kann ohne Vermisstenmeldung und Registrierung der DNA mühsam werden“, beendete Arne Bock die Runde.

      Rita Mesing verließ zusammen mit Siegfried Reuschel das Zimmer ihres Chefs. Sie hatte schon zu einer Bemerkung über das forsche Agieren des jungen Kommissars und die tollkühne Vermutung ihres Kollegen angesetzt, ließ es jedoch sein, als sie das teilnahmslose Gesicht an ihrer Seite wahrnahm.

      Arne begab sich zu seinem Chef Hartmut Westphal und informierte ihn über den Stand der Dinge. Westphal nahm die Information wortlos mit einem eher als Skepsis zu deutendem Kopfnicken entgegen, was Arne mit einem Anflug von Trotz als neue Herausforderung annahm.

      Die eben vernommenen Beiträge seiner Kollegen waren ja auch eher dürftig und ideenlos. Er musste einfach höhere Forderungen stellen, ohne dabei selbst als hilflos zu erscheinen.

      Wieder in seinem Büro angekommen, blickte er auf seinen PC und spürte plötzlich ein Verlangen, sich in den Chat einzuloggen. Aber auf dem polizeilichen Computer war das ausgeschlossen.

      5 Donnerstag, 1. November, 16.10 Uhr

      Der Mann ging durch die Heringsgasse in Wolgast. Seine Kappe hatte er tief ins Gesicht gezogen, der weit nach vorne ragende Schirm gab ihm Schutz. Er wollte in der beginnenden Dämmerung nicht erkannt werden. Trotz der für diese Jahreszeit milden Witterung trug er dünne Handschuhe. Sein Leben war seit einigen Jahren einem einzigen Ziel untergeordnet. Dabei folgte er einem lebendigen Plan, der den sich ständig wechselnden Bedingungen angepasst wurde, ohne kalkulierbaren Weg. Nur Richtung und Eckpunkte waren vorgegeben.

      Gerade in diesem Augenblick dachte er daran, wie er als Jugendlicher selbst Labyrinthe entwickelt hatte, die für seine Familie und seine Freunde nicht immer leicht zu knacken waren. Es kam eben darauf an, viele Spuren zu legen, den Benutzer des Labyrinths solange wie möglich in der Hoffnung zu wiegen, auf dem richtigen Weg zu sein. Aber die größte Leistung sah er darin, jemanden im Ungewissen darüber zu lassen, dass der viel versprechende Anfang des gesuchten Weges in einem Labyrinth enden würde. Die Ansprüche an seine Fähigkeiten wuchsen mit der zurückgelegten Wegstrecke. Er genoss solche Erfolgserlebnisse zwischendurch.

      Den ersten Teil seiner Aufgabe hatte er bereits absolviert, blickte jedoch mit gemischten Gefühlen auf ihn zurück. Er verlief nicht ganz nach seinem eigenen Plan. Nun war er auf dem zweiten unterwegs, obwohl ihn der erste noch nicht völlig in Ruhe ließ. Das beeinflusste den zweiten Teil auf manchmal unangenehme Weise. Schließlich sah er es aber als besondere Herausforderung, der er sich gewachsen zeigen würde.

      Von jetzt an würde er die Kreise enger ziehen, Fallen stellen, Schlingen legen. Schließlich würde er sein Wild zur Strecke bringen. Als das Wort Kreis seinen gedanklichen Fokus passierte, kam ihm eine Idee.

      Der Mann bog in die Herzogstraße ein, schlenderte einige Meter in nördliche Richtung, blickte sich unauffällig um. Als er auf der Höhe des Büros von ARGUS-TV war, zog er schnell einen kleinen Papierumschlag aus der Innentasche seines Mantels und ließ ihn im Briefkasten des Senders verschwinden, schloss die Klappe danach leise, um jede Aufmerksamkeit zu vermeiden.

      6 Donnerstag, 1. November, 19.05 Uhr

      Joachim Walter hatte an diesem Tag keine Lust, wahlweise mit der schwer vorhersehbaren Kochlust seiner Ehefrau oder den Tücken einer zeitaufwändigen eigenen Speisezubereitung in der heimischen Küche zu kämpfen. Vorsichtshalber hatte er sich deshalb auf der Heimfahrt einen Dönerteller gegönnt. Gleich nach der Ankunft in seinem Haus war er auf seinem Lieblingsplatz, dem großen Ohrensessel, versunken und betrachtete sich selbst in den großen Glasscheiben des Wintergartens. Die dahinter liegenden Peenewiesen am Rande von Karlshagen waren in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen. Er fühlte sich am Ende dieses Arbeitstages zerschlagen, spürte eine ungewohnte Leere im Kopf. Das Alter verlangte wohl seinen Tribut, wie ihm auch das Spiegelbild bestätigte.

      Im seinem Büro am Marktplatz der Stadt Usedom, die der Insel einst den Namen gab, stand heute das Telefon nicht still. Die Gedanken an den Grund dafür beherrschten ihn immer noch und hatten den Triumph seiner Laufbahn völlig in den Hintergrund gedrängt.

       Joachim Walter wurde zwei Tage zuvor als der erste Bürgermeister der neu geschaffenen Gemeinde Insel Usedom in sein Amt eingeführt. Ausgerechnet er, ein Zugereister. Stolz erfüllte ihn. Als Ort der Festlichkeit hatte der frisch gewählte Amtsträger das große Hotel Baltischer Hof in Zinnowitz gewählt.

       Die Gedanken an den Weg zu diesem Amt schufen das Gerüst für ein beinahe melancholisches Wohlgefühl, mit dem er den Festakt bestritt. Das Bewusstsein, im letzten und wohl bedeutendsten Abschnitt seines Berufslebens angekommen zu sein, erfüllte jede Faser seines Körpers.

       Der Regionalsender ARGUS-TV aus Wolgast zeichnete die gesamte Veranstaltung auf. Zum Abschluss der Zeremonie füllten seine würdevollen Worte den Raum, wurden von den modern gefärbten Wänden in jeden Winkel geworfen, so dass sich keiner der Anwesenden ihnen entziehen konnte. „Ich versichere Ihnen, verehrte Anwesende, dass ich meine ganze Kraft…“, die beiden letzten Worte artikulierte er auch mit einer solchen, „in den Dienst der neuen Gemeinde Insel Usedom stellen werde.“

       Mitten hinein in den einer Sinfonie ähnelnden Nachklang ertönte plötzlich eine Dissonanz mit schmerzhafter Frequenz.

      „Herr Bürgermeister, wie stehen Sie zu den neuen Plänen, den Deich am Peenestrom abzureißen?“ Im Saal breitete sich schlagartig Stille aus. Die knisternde Spannung des Augenblicks entlud sich wie durch einen Funkenschlag zu einem Nichts. Walters Gemütszustand sank wie ein Stein, die Gesichtszüge entgleisten und blieben in dieser Position für Sekundenbruchteile eingefroren. Seine Verhaltensreflexe als Beamter waren schnell wieder aktiv und zauberten ein Lächeln in seinen Blick, das aber um die Augen einen großen Bogen machte. Fieberhaft suchte er nach der passenden Reaktion.

       Der Moderator der Feier kam ihm zuvor, erhob sich würdevoll und sandte einen energischen Blick zu dem Zwischenrufer.

      „Herr… ich kenne Ihren Namen leider nicht, haben Sie bitte Verständnis dafür, dass heute keine Diskussion vorgesehen ist.“

       Hier griff Joachim Walter aber

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