Flut über Peenemünde. Rainer Holl
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„Schön, deine angenehme Stimme zu hören“, klang es ihm entgegen, als er seine übliche Frage nach einer Spezialbehandlung anbrachte. Denn Walter hatte keine Lust, nach der Veranstaltung noch einmal sein Büro in der Stadt Usedom am anderen Ende der Insel aufzusuchen.
„Für dich doch immer“, hauchte sie jetzt einen Ton weicher, „Gegen 15 Uhr ist okay, ich muss aber … danach … noch mal ins Studio. Du weißt ja, ab morgen bin ich für eine Woche im Urlaub.“
Unverzüglich begab sich Joachim Walter auf den Heimweg, wich geschickt allen Versuchen aus, ihn im Anschluss an diese Veranstaltung in ein Gespräch zu verwickeln. Mit größter Mühe entkam er den Versuchen von ARGUS-TV, ihn zu einem Interview überreden zu wollen.
Die Begegnung mit Erich Bernecker hatte ihn in gehörigem Umfang aus dem Gleichgewicht gebracht. Auf der Rückfahrt im Auto ertappte er sich mehrfach dabei, dass diffuse Gedanken, deren Herkunft er nicht einordnen konnte, ihn an der nötigen Konzentration hinderten. Er fühlte sich in seine Jugend zurückversetzt, als er sich in unangenehmen Situationen immer wünschte, dass diese wie mit einem Federstrich einfach aus seinem Gedächtnis, oder besser noch, aus seinem Leben zu streichen seien.
Fast alle Anrufer des Tages waren besorgt, erkundigten sich nach den Gerüchten zum Deichrückbau. Natürlich stürzten sich die Medien auf ihn. Diesmal stellte er sich den Fragen von ARGUS-TV.
Mühevoll hatte Walter an diesem Tag seine Fassung bewahren können. Die Erregung darüber, auf welche Art er von Bernecker abgekanzelt wurde, war längst nicht abgeklungen. In seinem Inneren stimmte er natürlich mit Reinhard Henkelmann überein. Er würde wohl mit ihm persönlich reden müssen, obwohl das ein gewagter Balancegang wäre.
Einen kleinen Moment lang zog er sogar in Erwägung, es auf einen Machtkampf mit Bernecker und dessen Auftraggebern ankommen zu lassen und sich offen gegen den Deichrückbau auszusprechen.
Schließlich verwarf er diesen Gedanken. Er konnte sich nicht sicher sein, wer genau diese Leute waren und was sie gegen ihn noch alles auffahren würden. Vor allem wenn er an die dunklen Stellen in seiner Vita zurückdachte. Die dunkelsten hatten glücklicherweise bereits einen ausreichenden Sicherheitsabstand zur Gegenwart, wie er selbst einschätzte. Auch wenn die Mauer dorthin auf seiner Rückfahrt scheinbar etwas von ihrer Widerstandskraft eingebüßt hatte.
Die Möblierung des Raums war spärlich: nur zwei Sessel, ein zweisitziges weich gepolstertes Sofa und zwei kleine Tischchen auf Rollen, genau richtig, um darauf Whiskyglas, Obstteller oder ein Buch abzulegen. Die Wände waren mit hellen beigefarbenen Strukturtapeten versehen, deren Relief sich im Schatten der Stehlampe leicht abzeichnete.
In dieser gemütlichen Atmosphäre versuchte Joachim, die Belastungen abzuschütteln, probierte es mit der gewohnten Zeitschriftenlektüre. Aber wie so oft fielen ihm dabei die Augen zu.
Als seine Frau Erika betont laut das Zimmer betrat, schreckte Joachim hoch. Sie war in ein legeres Kostüm aus zwei verschiedenen, zueinander passenden Blautönen gekleidet, wie Joachim nebenbei registrierte. Gewohnheitsmäßig erwartete er in der jetzigen Situation von seiner Frau keine wirkliche Unterstützung.
Das hatte Erika auch gar nicht vor.
„Oh, habe ich dich geweckt?“, fragte sie mit kaum verhohlener Ironie. „Jaja, ältere Herren brauchen ihre Ruhe. Entschuldige bitte, ich vergaß es.“ Joachim lächelte in sich hinein, ehe er erwiderte: „Vor allem, wenn sie mit so vitalen und merklich jüngeren Frauen zusammenleben.“ Erfreut registrierte er seine gewohnte Angriffslust und betrachtete die Kleidung seiner Frau mit gespieltem Interesse.
Erika Walter war gerade zwei Monate jünger als Joachim, etwa einen Kopf kleiner und trotz aller Bemühungen immer noch schwerer. Das Kostüm sollte nach außen hin diese Tatsachen zumindest abschwächen.
Beide hatten sich an die gegenseitigen Nadelstiche gewöhnt, es gehörte mittlerweile zum Ritual ihres Zusammenlebens. Sie wahrten nach außen den Schein der Ironie, meinten es jedoch im Inneren wohl viel ernster, als sie es sich selbst eingestehen wollten.
Erika freute sich auf ihre Rolle als First Lady der Insel. Damit verband sie aber keine erneute innere Annäherung an ihren Ehemann. Im Gegenteil, sie könnte diese Situation ausnutzen, um ihre Freiheiten auszuweiten.
Jovial verabschiedete sie sich: „Bye, großer Chef“, wie sie ihn seit der gewonnenen Wahl nannte, „ich bin dann mal weg, kann spät werden, wie du weißt.“
Joachim gab sich keine Mühe, darüber nachzudenken, ob sie ihm vielleicht schon früher ihr Ziel für diesen Abend mitgeteilt hatte.
Einmal aufgewacht, legte er die Zeitschrift ganz aus der Hand und schaltete den Fernseher ein. Beim Zappen blieb er zufällig bei ARGUS-TV hängen, denn etwas erregte dort seine Aufmerksamkeit. Das Fernsehbild zeigte verschwommen und undeutlich eine Wasserleiche, die, so der Kommentator, am Peenestrom bei Peenemünde entdeckt worden war. Das Foto war erkennbar nachts aufgenommen worden. Sofort erwachte sein Verantwortungsgefühl als neuer Amtsträger.
Die darauf folgende Einstellung zeigte die Umrisse der weiblichen Leiche etwas genauer, das Gesicht wurde aber bewusst ausgespart. Schemenhaft konnte man in der dunklen Umgebung eine Schulter der Leiche erkennen. Ganz langsam und zunächst weit hinten in seinem Gehirn begann sich bei Joachim eine Annäherung zwischen dem Bild und eigenen Erinnerungen aufzubauen. Plötzlich trafen beide aufeinander, was auf ihn wie ein Stromstoß wirkte.
Seine Gedanken gerieten schlagartig ins Chaos. Obwohl sich alles in seinem Innersten dagegen sträubte, fühlte er sich erneut um zwei Tage zurück versetzt.
Die kurze aber heftige Begegnung mit Viola Kübeck hatte ihm gezeigt, wie viel Vitalität in ihm steckte. Er brauchte eben nur die entsprechende Herausforderung. Dann hatte ihn jedoch der Übermut gepackt. Er hielt sich nicht an die Absprache, äußerste Diskretion zu wahren, fuhr ihr ins Studio hinterher. Dort sah er Licht, ging einfach hinein wie ein Zufallskunde. Er wollte sie überraschen, war selbst noch euphorisiert von ihrer Begegnung. Sein plötzliches Auftauchen schien ihr aber nicht gefallen zu haben.
Voller innerer Unruhe dachte er an den Moment ihrer Trennung im Studio, und die möglichen Konsequenzen daraus. Es hinterließ bei ihm ein unsicheres Gefühl. Dabei war er sich der Loyalität von Viola doch immer so sicher. Schon jetzt, nach nur zwei Tagen, sehnte er sich trotzdem, oder gerade deshalb, wieder nach den körperlichen Reizen dieser attraktiven Frau.
Joachim folgte einem Impuls, ging hinauf in sein Arbeitszimmer und schaute sich die Bilder an der Wand an. Sein Blick blieb an einem von ihnen hängen. Es war ein Geschenk von Viola, was Erika natürlich nicht wusste. Er hatte gefunden, was er befürchtete. In diesem Augenblick setzte gleichzeitig einer seiner Vorzüge aus, das rationale Handeln in schwierigen Situationen. Doch das war Joachim Walter nicht bewusst.
Hastig und voller Unruhe zog er sich an und verließ das Haus. Zunächst fuhr er zum Studio von Viola in der Strandstraße, hielt an, stieg aus und sah an der Tür das Schild „Wegen Urlaub vom 31. Oktober bis zum 6. November geschlossen“.
Joachim fuhr weiter, stellte das Auto auf dem um diese Zeit vollkommen leeren Strandparkplatz in der Ostseestraße ab und ging das letzte Stück zu Fuß. Viola wohnte in einem kleinen Haus im neuen Ferienhausgebiet An der Düne. Diese abseitige Lage kam ihnen bei ihren Treffen sehr zugute.
In Violas Haus brannte kein Licht. Ihr grauer Opel Astra war nicht zu sehen. Joachim ging zur Eingangstür, der Bewegungsmelder reagierte nicht, es blieb dunkel. Eine solche Vorsichtsmaßnahme