Zu dumm zum Beten. Heiko Rosner
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„Halt!“ kreischte Gessler. „Du hast gar nicht gefragt, was für ein Krankenhaus!“
„Hab ich nicht?“
„Nein.“
„In Altona?“
„Eben nicht. Eppendorf. Sie haben uns nach Eppendorf gepackt.“
Eppendorf. Das war die Gegend tief im Westen von Hamburg, ein Durchgangslager zum Ohlsdorfer Friedhof. Im Volksmund Depression-City genannt. Man musste den Buchstaben „D“ gar nicht vor den Ortsnamen setzen, um nur ansatzweise zu erahnen, wie grausam ein Leben in Isolationsfolter und ewiger Verdunklung sein muss (Wenn Sie je mit dem 20er oder 25er am Eppendorfer Marktplatz halten, steigen Sie bloß nicht aus). So gesehen ging Eppendorf gar nicht. Außerdem hatte er – wenn er sich recht erinnerte – einen Termin bei den Pferdekutschern in Hamburg-Horn.
Siebzehn blätterte zurück. Wann fing noch mal die Übertragung der Apothekerrundfahrt auf Sport-Quark an?
„Hallo?“, quakte Gessler am anderen Ende. „Hömma, bist du noch da?“
Siebzehn stöhnte. Was für eine Nervensäge. „Jaja“, sagte er, während er mit verkniffenen Augen versuchte, das Kleingedruckte auf der Spalte des Sportkanals zu entziffern. „Eppendorf, verstehe“, murmelte er. „Wie geht’s ihm denn?“
„Wem?“
„Na, Pastor.“
„Die Beine sind grün und blau. Was weiß ich? Mir sagt ja keiner was.“
„Aber ist alles noch dran?“
„Ich glaube, das würde den Ärzten schlecht bekommen, wenn sie ihm irgendwas absägen.“ Gessler wurde ungeduldig. „Kommst du jetzt oder nicht?“
Da. Zehn Uhr. Beginn der siebten Etappe. Das hieß, sie fuhren schon. Siebzehn fummelte nach der Fernbedienung. „Das ist mir alles zu transparent, ich überleg mir das“, sagte er kurz angebunden. „Richte Pastor schöne Grüße aus und halte die Stellung. Alles andere besprechen wir in der Krähe.“
Er hörte Gessler noch zeteren, drückte ihn aber weg und warf das Handy auf die Frühstücksschuhschachtel, wo es hingehörte. Der Bildschirm flammte auf und zeigte Drogisten im strömenden Regen, die sich eine steile Bergpassage hochquälten. Wunderbar. Er lehnte sich bequem im Chefsessel zurück. Siebzehn liebte Sport (obwohl man ihm das nicht ansah).
Weil das Feuer gegenüber aufgrund des beherzten Eingreifens der freiwilligen Pyromanen in den letzten Zuckungen lag und wohl kaum noch auf benachbarte Grundstücke überzugreifen vermochte, richtete Siebzehn seine Aufmerksamkeit auf den Zwanzig-Zoll-HDXL-Schlankfernseher, den er bei einem Gegengeschäft mit Big G abgefischt hatte. Eigentlich war die Glotze viel zu groß für den den knapp zwanzig Quadratmeter großen Raum, den er gleichzeitig als Schlafzimmer, Büro und Meditationszentrum benutzte. Obwohl er nie im klassischen Sinn meditierte. Sitzen und Sinnen, dann womöglich Schauen und Schaffen, das waren so seine Übungen. Also nichts was den Kreislauf zu sehr beanspruchte. In seinem Alter sollte man lieber die eine oder andere Zigarette mehr rauchen, als sich unnötig zu überanstrengen. Das meinte auch Doc Carstensen, der Arbeitnehmerarzt im Viertel, ein entschiedener Verfechter des Passivarbeitens und der Sportverweigerung. Der Doc war es auch gewesen, der Siebzehn den Tipp gegeben hatte, sich im Fernsehen zur Entspannung Golfturniere, Skischanzenspringereien, Marathonwettläufe oder andere komplett sinnlose Sportarten anzusehen. Das entschlackte und sorgte für eine geregelte Blutzirkulation. Und nichts war Siebzehn wichtiger als eine ordentliche Passivgesundheit.
Seither war er ein Fan der Tour de Trance, eines sportlichen Unfugs, der zwar gähnend langweilig war, aber aufgrund ihrer Nähe zur Dogenkriminalität über einen kollegialen Reiz verfügte. Mittlerweile hielt er die Übertragungen der Frankreich-Rundfahrt gar für eine der besten Kultursendungen des deutschen Fernsehens. Wo sonst erfuhr man, dass in der Bretagne die Fischwirtschaft dahinsiecht, dass das größte manuell betriebene Glockenspiel in der Provence steht oder in den südfranzösischen Wäldern wieder freilebende Bären ihr Unwesen treiben. Auch die Fachbegriffe der Radlersprache wie Windkanten, Kreuzgängeln, Schiebeschub oder Kernmuffenoptimierung übten eine kuriose Faszination auf ihn aus. Am schönsten war es aber natürlich, wenn einer mit dem Rad nicht die Kurve kriegte und ungebremst in die Botanik kachelte. Noch besser waren Massenkollisionen im Zielsprint.
Dabei war Siebzehn im Grunde seines Herzens Fußballfan. St. Pauli-Dauerkartenbesitzer seit der Besetzung der Hafenstraße, Weltpokalsiegerbesieger, Tabellenführer der ersten Bundesliga am 12. August 1995 und Erster der Herzen in Hamburg hinter der Mannschaft mit dem Stadion neben der Müllverbrennungsanlage. Dazwischen gab es einige wenige Niederlagen. Geschenkt. Deutscher Meister konnte nur der FC St. Pauli werden. Das sahen die Marcel Reifs dieser Welt nur noch nicht voraus. Aber jetzt war Sommerpause, und im Fernsehen liefen nur Testspiele oder Freundschaftsbegegnungen zwischen Hertha BSC und Dunlop Olpe, ganz zu schweigen von der Simulations-WM der Frauen (nie war Zeitlupe überflüssiger). Es war noch lange hin bis zum Bundesligastart. Irgendwie musste man die Zeit überbrücken und da war die Frog-Tour mit ihren schicken AKW-Bildern und hohen Bergen gar kein schlechtes Methadon.
Spannend fand er vor allem die Zuschauerfragen. Warum bei der Tour so wenig Schwarze mitfahren. Wie die Sattelstützen berechnet werden. Ob Pinkelpausen mitgezählt werden. Er rief manchmal selbst im Studio an, und fragte, ob bei Schussfahrten ins Tal die Gangschaltung ausgestellt werden muss, was die französische Polizei macht, wenn bei Ortsdurchfahrten die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit überschritten wird oder seit wann Jan Ullrich nicht mehr mitfährt? Diese Form des interaktiven Fernsehens nannte er Gonzo-Lotto und er betrieb es mit wachsender Begeisterung. Erst vor kurzem hatte er in der Phoenix-Nachgefragt-Runde des ARD-Presseclubs angerufen, und den Alleswisser-Zerberus der Trockenhauben-Illustrierten Stern live zum Thema Casino-Kapitalismus gefragt, wieso er so ein Geheimnis darum machte, dass er auf der Payroll des Industriedachverbands der deutschen Dax-Unternehmen stand. Das gab ein Gebrülle, sagenhaft! Obwohl alles frei erfunden war. Oder gut geraten. Jedenfalls bekam der Stern-Heini einen Riesenärger und Siebzehn rief noch am selben Nachmittag in der „Gegengerade“-Talkshow von Sport 1 an, wo er verriet, dass Bastian Schweinsteiger ein gemeinsames Schwarzgeldkonto mit Joachim Löw hatte.
Werbepause. Er zappte weg und landete in einer Phoenix-Diskussionsrunde mit dem Thema „Starke Frau sucht schwachen Mann – Der Wandel des Beuteschemas?“ Eine Frau mit sehr langem Hals sagte, die Lebensläufe zwischen Erwerbsarbeit und Kinderkriegen müßten dringend entzerrt werden. Seine anderen Lieblingssendungen waren „Exaktes Hellsehen mit Hilli“ auf Astro-TV („Ich kann sehen bei dir berufliche Veränderungen Ende Oktober.“) und die Ratgeber-Show „Domian“ nachts um eins auf WDR 3. Da hockte mitten in der Nacht live ein schnurrender Schmuseonkel und tröste schniefende Teenager, die seit fünf Tagen Single waren oder an anderen psychischen Erkrankungen litten. Siebzehn hatte auch einmal angerufen, und sich als homosexueller Bundesligaspieler mit Erektionsproblemen ausgegeben. Im Verlauf des Gesprächs mit Domian gab er zu, dass er sich heimlich ritzte und gern kleine Jungs in Bayern-München-Trikots strangulierte. Daraufhin flog er kommentarlos aus der Leitung. Die hatten auch gar keinen Humor, nachts im Fernsehen. Da rief er lieber weiter bei Sportsendungen an, die erklärten ihm wenigstens, warum es so wenig Schwarze mit Gangschaltung gab.
Siebzehn schaltete um God-TV, ein Sender, den er wegen seines elaborierten Bildungsauftrags schätzte. Eine Art Fischer-Chor sang vor majestätischer Bergkulisse das Lied vom