Die Gregoriuslegende Arnolds von Lübeck. Karoline Harthun

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Die Gregoriuslegende Arnolds von Lübeck - Karoline Harthun

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mittelhochdeutscher Literatur bleibt ein Desiderat. Ponert erhebt mit dem Titel seiner Dissertation den Anspruch, die grundlegenden Beziehungen zwischen beiden Literatursprachen aufzudecken, doch steckt er den Rahmen so weit, daß er über einen literaturhistorischen Überblick hinaus eine kohärente Theorie nicht aufzustellen vermag, zumal er hauptsächlich Einflüsse lateinischer Literatur auf deutsche Texte gelten läßt, kaum jedoch umgekehrte Wirkungen.50

      IV. Der Gregorius-Stoff

      IV.1 Authentizität der Legende

      Die Gestalt der Gregoriuslegende geht auf keine historische Persönlichkeit zurück. Obwohl der Name Gregorius für einen Papst geläufig ist, kann die Geschichte mit keinem Papst in Verbindung gebracht werden. Verschiedene Erzählmotive51 lassen keinen Zweifel daran, daß man es mit einer stark von literarischen und kulturellen Traditionen geprägten Fiktion zu tun hat: Gregorius ist das Kind eines Geschwisterinzests52 (Mot. A 164.1, Mot. A 1331.2, Mot. A 1337.0.7, Mot. A 2006, Mot. G 37, Mot. M 365.3, Mot. Q 520.3, Mot. T 415, Mot. T 471.1)53 und wird daraufhin verstoßen (Mot. S 312.1). Er wird in einem Weidenkorb ausgesetzt wie Moses (2 Mos 2, 1 - 10; Mot. N 211.1.2)54 und von Fischern gefunden (Mot. R 131.4). Er schlägt seinen Stiefbruder wie Judas (Mot. S 73.1.0.1);55 er heiratet seine Mutter wie Ödipus (Mot. A 164.1.1, AaTh 931).56 Er tut siebzehn Jahre Buße wie Alexius. Nach Ohly entspricht diese Zeitspanne dem Strafmaß für Inzest im römischen Recht.57 Der Schlüssel zu seinen Ketten wird im Magen eines Fisches gefunden wie der Ring des Polykrates (Mot. N 211.1.2, AaTh 736 A) und der des Hl. Arnulf,58 aber auch der Schlüssel zu den Ketten des Hl. Metro, der sich ebenfalls an einen Stein gefesselt hat, um zu büßen (Mot. Q 525.1).59Auf einem Felsen schmachten auch Judas60 und der Hl. Martinian.61 Gregorius’ Befreiung ähnelt der des Hl. Genebaudus, der sieben Jahre in einer Zelle eingeschlossen war, weil er als Bischof zwei Kinder gezeugt hatte. Die Tür zu seinem Kerker wird von einem Engel geöffnet, den Gott sendet.62 Schließlich begegnet Gregorius seiner Mutter erst wieder, als er Papst geworden ist (Mot. H 151.3), und vergibt ihr die Schuld des Inzests (Mot. T 412.1). Als Heiliger wirkt er Wunder, die an die Wunderheilungen der Apostel erinnern.

      Gregorius ist nicht nur keine historische Figur,63 auch als Heiliger wurde er kaum nachweislich verehrt, weder vor der Niederschrift der Vie de Saint Grégoire oder des Gregorius Hartmanns von Aue noch danach. Keine Kirche ist ihm geweiht, und seine Erzählung wurde nur einmal in die Liturgie aufgenommen, in ein Lübecker Plenar des späten 15. Jahrhunderts.64 Wenige Exempel- oder Legendensammlungen erwähnen ihn, außer den prominenten Kompilationen der Legenda aurea und der Gesta Romanorum überliefern nur eine deutsche dominikanische Exempelsammlung aus der Mitte des 13. Jahrhunderts und die Sammlung Der heiligen leben von 1471 den Stoff.65

       IV.2 Gliederung bei Arnold und Hartmann

      Arnold unterteilt seine Erzählung in Bücher und Kapitel. Dies tut keine der erhaltenen Handschriften von Hartmanns Gregorius. Gleichwohl kann Arnold die Einteilung seiner Vorlage, der verlorenen Handschrift N entnommen haben. Seine Komposition weist gegenüber der Hartmanns jedenfalls keine entscheidenden Veränderungen auf. Schilling liefert einen tabellarischen Stellenvergleich.66 Die zwei Prologe und drei Epiloge Arnolds verstärken den Eindruck einer planvollen und abgeschlossenen Konzeption. Der Übersetzungstext schwillt nicht an; der Umfang des Übersetzungstextes entspricht in etwa dem der Vorlage.67 Auch qualitativ orientiert sich Arnold an Hartmanns Vorgaben. Chronologische Umstellungen der Erzählung werden nicht vorgenommen, der Erzählfluß wird lediglich bei Arnold häufiger für abstrakte Erörterungen unterbrochen.

      Das erste von vier Büchern erzählt die Vorgeschichte, also den Inzest der Eltern des Gregorius, den Tod des Vaters, Gregorius’ heimliche Geburt und seine Verstoßung. Das zweite Buch berichtet seine Kindheit, seinen Auszug in die Welt und die Hochzeit mit der Mutter. Das dritte beschäftigt sich ganz mit der Schuld, die darin aufgedeckt wird. Das letzte Buch thematisiert Gregorius’ Buße und Erlösung. Diese klare und sinnvolle Gliederung weist das Thema von Schuld und Sühne deutlich als den Kern der Erzählung aus.

       IV.3 Hartmanns Erzählhaltung

      Um Arnolds von Lübeck Eingriffe in die Erzählung der Gregoriuslegende zu erkennen, muß man sich zunächst die Erzählhaltung seiner Vorlage verdeutlichen. Hierbei kann man auf die reiche germanistische Hartmann-Forschung zurückgreifen, die weitaus dezidiertere Ergebnisse erbracht hat als die Beschäftigung mit dem mittellateinischen Text. Sie bezieht ihre Ergebnisse teils aus vergleichenden Stilanalysen der einzelnen Werke Hartmanns, teils aus einer Gegenüberstellung der Vie de Saint Grégoire mit dem Gregorius. Den mittelhochdeutschen Text gegen den altfranzösischen absetzend, erkennt zum Beispiel Hans Schottmann Hartmanns Anliegen darin, „die Motive der Vorlage schärfer zu fassen und zu verbinden, durch Streichungen auszugleichen, durch Umstellungen und Erweiterungen dem Erzählten neue Akzente zu geben“.68 Freilich könnte man ähnliches auch von Arnolds Umgang mit der narrativen Struktur seiner Vorlage formulieren. Daher muß der Versuch unternommen werden, die Erzählhaltung des Gregorius absolut zu umreißen. Diesem Wagnis kommt man am ehesten bei, wenn man die Rolle und den Charakter des Erzählers umreißt.

      IV.3.1 Der Erzähler im Gregorius

      Norbert Heinze hat eine statistische Untersuchung aller wichtigen Werke Hartmanns vorgelegt, die sich hauptsächlich mit den Gliederungspraktiken beschäftigt, aber auch einige Worte über den Erzähler verliert. Diese Untersuchung ist insofern nützlich, als sie auch die Unterschiede zwischen den Erzählhaltungen der einzelnen Werke andeutet und dadurch indirekt zur Diskussion der Gattungsmerkmale beiträgt, also auch zu der Frage, wie legendentypisch die Erzählstruktur des Gregorius ist.

      Das in diesem Zusammenhang wichtigste Ergebnis Heinzes betrifft das Hervortreten des Erzählers. Heinze behauptet für den Gregorius ein so deutliches Hervortreten des Erzählers, wie wir es in den beiden Artusromanen, vor allem im späten Iwein, nicht finden. Tatsächlich tritt der Erzähler im Gregorius nicht unbedingt deutlicher, sondern anders konturiert auf als dort. Er scheint in direkterem Kontakt mit dem Adressaten zu stehen, er bezieht eine subjektiv-perspektivische Erzählhaltung. Von der Funktion des Autors kann die des Erzählers hier weniger eindeutig als im Artusroman getrennt werden, weil die Suggestion eines Vortrags erzeugt wird. Der Erzähler spricht häufiger in der Ersten Person, er redet die Leser oft direkt in der Zweiten Person an, er kommentiert das Geschehen, ohne sich hinter anderen Personen der Erzählung zu verstecken, und stellt dabei gelegentlich einen scheinbar autobiographischen Bezug her.69 Als eigenständige Figur im Sinne Stanzels70 ist er auch dadurch leichter einzugrenzen, daß er seine Kompetenz selbst beschränkt, indem er darauf verzichtet, die Perspektiven erzählimmanenter Personen zu wählen oder deren Gedanken und Reden konjunktivisch wiederzugeben.71 Es herrscht direkte Rede vor.72 Der Autor strukturiert die Erzählung deutlich - die ursprünglichen Abschnittsgrenzen des Gregorius sind durch die Handschriften gut belegt -,73 indem er neue Abschnitte überwiegend mit eindeutigen Partikeln wie „dô“ oder „nû“ beginnt und sie mit einversigen Schlußsätzen beendet, die oft Erzählerkommentar sind.74

      Die gesamte Erzählsituation75 ist im Gregorius also unvermittelter als in Hartmanns Artusromanen.76 Sie scheint mehr als der Erec, obwohl dieser vor dem Gregorius entstand, die orale Tradition von Literatur zu atmen. Das Hervortreten des Erzählers als eines alternativen Konzepts zum Autor oder seinem Stellvertreter, der den Text für ihn vorträgt, ist im allgemeinen ein Merkmal der Verschriftlichung weltlicher Literatur.77 Im Falle des Gregorius simuliert die unvermittelte Präsenz des Erzählers, der „Ich“ sagt, den Vortragenden der älteren Rezeptionssituation. Von einem Hervortreten des Erzählers als einer rein literarischen Vermittlerfigur kann

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