Die Gregoriuslegende Arnolds von Lübeck. Karoline Harthun
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Der von Jehn abschätzig gebrauchte Ausdruck „Sammelbegriff eines ‘konstanten’ oder ‘traditionellen’ Textelementes“ ist zwar vage, trifft aber die Eigenart von Curtius’ Terminus. Für eine moderne, nicht aristotelische Topos-Definition reicht er freilich nicht aus. Diese ist aber vonnöten, will man nicht einfach Curtius’ theoretisch unsicheren, aber in der literaturwissenschaftlichen Praxis fruchtbaren komparatistischen Ansatz aus rein logischen Überlegungen zu einer zu eingeschränkten Stilkritik degradieren. Zu eingeschränkt deshalb, weil das von Curtius Topos genannte Phänomen in der literarischen Realität der nachantiken, insbesondere der nicht wissenschaftlichen Literatur - Aristoteles’ Äußerungen über die Topik sind ja von den Gattungen der Gerichtsrede und des philosophischen Beweises inspiriert - damit in seiner Bedeutung nicht erkannt würde.
Wie vielfältig die topische Verwendung eines narrativen Elementes in der Literatur des Mittelalters auftreten kann, hat zuletzt Peter von Moos am Beispiel des Exempels vorgeführt.116 Er betrachtet das Exempel nicht mehr losgelöst von seinem Erzählkontext und berücksichtigt besonders historische Texte, die nicht zum Vortrag gedacht waren. Dadurch wird der metaphorische Gebrauch des Exempels deutlich, das formal dem Exempel in Oratio und Sermo entlehnt ist. Für andere Textelemente liegen derart umfangreiche Untersuchungen nicht vor.
Die Einsicht, daß ein Topos seine volle Gültigkeit erst durch seinen Erzählkontext erlangt und kein „funktionsloses Requisit“117 ist, verdankt die neuere Literaturwissenschaft der Topostheorie Bornscheuers. Von Moos’ Schüler führt den Begriff der Kombinatorik in die Diskussion ein. Nach seiner Auffassung spiegelt der Topos zwar ein allgemein anerkanntes Wissen wider, doch was ihn von einem Gemeinplatz im Sinne Mertners abhebt, ist seine kombinatorische Struktur, das heißt die ihm eigene Potenz, innerhalb begrenzt variabler Kontexte dieses Wissen anschaulich und durchaus originell zu vermitteln.118 Die Allgemeingültigkeit und die Verwendbarkeit als Conditio sine qua non topischen Materials differenziert Bornscheuer zu einem Vier-Punkte-Katalog: „Den Umriß eines Topos beziehungsweise einer Topik bestimmen vier verschiedenartige Hauptmomente: die kollektiv-habituelle Vorprägung (Habitualität), die polyvalente Interpretierbarkeit (Potentialität), die problemabhängige, situativ wirksame Argumentationskraft (Intentionalität) sowie die sich gruppenspezifisch konkretisierende Merkform (Symbolizität).“119In der Beherrschung aller vier Voraussetzungen, ohne die ein Topos nicht dechiffrierbar ist, liegt ein guter Teil der Virtuosität und Originalität eines Autors. Denn die Bedeutung eines Topos kann der Rezipient nicht frei wählen. Wird diesem die intendierte Bedeutung nicht bewußt, hat der Autor versagt. Die Basis narrativer Kunstfertigkeit ist jedoch nicht ein autonomes Genie, sondern „eine jeweils epochencharakteristische Tiefenstruktur“.120
Die Topos-Definition Bornscheuers versucht, dem qualitätsvollen Material in Curtius’ Enzyklopädie gerecht zu werden, es aber auf eine theoretisch sicherere Grundlage zu stellen. Es ist wichtig, die Offenheit von Curtius’ Methode bewußtzumachen, ohne ihre Offenheit logisch einschränken oder auffüllen zu wollen. In diesem Sinne formuliert August Obermayer: „Ähnlich sehe ich (...) den Topos als ein Vorstellungsmodell, als eine Weise des Denkens und Formens von Sein und Welt, die sich zu einer feststehenden sprachlichen Form kristallisieren kann, jedoch nicht notwendigerweise muß, und literarisch wirksam wird. In den Topoi sind also ‘Seinsverhältnisse gedacht und geformt’. Auch ist ein Topos ‘mehr als ein Begriff, er fordert die Anwendung von Begriffen in bestimmter Absicht’. Es wird damit (...) weder zu Aristoteles zurückgekehrt, wo der Topos einen Platz im Beweisverfahren hatte, noch wird - wie bei Curtius - über dem vermeintlichen Klischeecharakter jede philosophische Bindung geleugnet.“121
Diese Definition des Topos als Vorstellungsmodell ist zwar wenig prägnant, erfordert weitere Erläuterungen und am besten eine Verifikation ihrer Anwendbarkeit - die hier versucht werden soll -, sie wird aber am ehesten der Hydra narrativer Topik Herr. Entscheidend ist dabei der Hinweis auf die Motivation literarischer Topik. Während bei Curtius oft der Eindruck entsteht, daß eine topische Auffassung und Bearbeitung von Literatur für den mittelalterlichen Autor geradezu zwingend gewesen sei, hatte dieser doch in Wirklichkeit einen freizügigen Spielraum. Dies wird zum Beispiel daran deutlich, daß ein Dichter wie Baudri von Bourgueil einen konventionellen Anklang an affektierte Bescheidenheit durch seine individuelle Position dichterischen Selbstbewußtseins kontrastieren kann.122
Die topische Analyse der Gesta Gregorii Peccatoris wird mithin unter der Voraussetzung vorgenommen, daß die Verwendung von Topoi durch die didaktischen und ästhetischen Absichten des mittelalterlichen Autors motiviert und von diesen abhängig ist. Nur unter dieser Voraussetzung kann sie zu einem besseren Verständnis von Arnolds Interpretation der Gregoriuslegende leiten. Dabei versteht sich, daß diese Absichten keinesfalls allein personal gebunden sein können, sondern vor allem in Abhängigkeit zu Arnolds Position innerhalb einer bestimmten literarischen Tradition, nämlich der der Legende, stehen. „Der traditionelle Legendentypus, so wie Arnolds von Lübeck ‘Gregorius’-Übersetzung ihn vertritt, bedingt eine gewisse Stilisierung; tropologische Gehalte werden eher normativ dargestellt als durch persönliche Ausführungen mit subjektiver Erfahrung verknüpft.“123Normativ dargestellte Gehalte werden von Arnold aus dem Fundus ihm bekannter Erzähltopik124 geschöpft, den er zumeist als gegeben kennzeichnet.125
V.2.2 Die „topischen“ Zugaben (B) - Fortsetzung
Aufbauend auf Obermayer soll für die Analyse der Gesta Gregorii Peccatoris folgende Topos-Definition gelten: Die von Arnold verwandten Topoi, die von der Vorlage unabhängig sind, sind inhaltlich definierte Bausteine seines Vorstellungsmodells von Erzählung, die in der Regel keiner besonderen sprachlichen Form verpflichtet sind. Sie drücken seine moralische und ästhetische Interpretation des Gregorius-Stoffes aus, aber sie kennzeichnen auch eine bestimmte Haltung gegenüber dessen literarischer Gestaltung, Gattungszugehörigkeit und der Form und Funktion von Literatur im allgemeinen, indem an ihnen deutlich wird, daß Arnold manche Erzählmuster anderen vorzieht. Die Erzählmuster sind dabei in bestimmter Weise konnotiert und gehören jeweils einer eingrenzbaren Tradition an. Arnold setzt Topoi da ein, wo sie nach seiner Auffassung hingehören,126 das heißt, wo er ein bekanntes Erzählmuster als gültig akzeptiert oder gar Hartmann korrigieren möchte, der nach seinem Ermessen davon abgewichen ist. Da er seine auf diese Weise „wiedergefundenen“ Topoi - man bezeichnet die Topik ja als Ars inveniendi - nicht regelwidrig in ungebräuchliche Kontexte einfügt, ist sein Vorgehen an sich konservativ;127 denn sobald Argumentationen topisch geworden sind, wollen sie „weder bestehende Werte hinterfragen noch neue Werte etablieren, (...) vielmehr den durch einen gesellschaftlichen Konsens abgesteckten Rahmen verbindlicher Werthaltung[en] artikulieren“.128
Arnolds „verbindliche Werthaltung“ dient als Regulans sowohl der sprachlichen als auch der inhaltlichen Gestalt der Topoi. Darüberhinaus bestimmt sie die Wahl der literarischen Gattung. Je nachdem, ob die narrative Struktur der Gesta Gregorii Peccatoris mehr dem Roman oder mehr der Legende zuneigt, transportiert sie unterschiedliche Wertesysteme, die keineswegs nur moralisch definiert sind, sondern ebenso ästhetisch.129 Narrative Struktur und somit die Gattungszugehörigkeit eines Textes werden wiederum durch Topik verfestigt und für den Leser kenntlich gemacht. Von besonderer Bedeutung für die rezeptive Einordnung eines Textes sind dabei Ort und Zahl der auftretenden Topoi. Sie sind zum Teil mit der Wahl der Gattung bereits festgelegt, zum Beispiel die Frage nach der Abstammung des Protagonisten: „(...) ihm [dem Autor] kam es zu, über die Herkunft des Heiligen etwas zu sagen. Der Topos hieß nun ‘Herkunft’, nicht aber ‘adlige Herkunft’ oder ‘geringe Herkunft’. Der Topos (...) erinnert den Autor daran, daß er an dieser Stelle suchen muß, daß er die Frage der Herkunft