Zerrissen. Andreas Osinski

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Zerrissen - Andreas Osinski

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konnte, ihn so durcheinander brachte. Der Mann zog den Reißverschluß der hellen Jeansjacke herunter und öffnete den obersten Knopf des Cordhemdes. Sollte er sie vielleicht noch mal kurz anrufen? Um den beruhigenden Klang ihrer Stimme zu hören? Aber er konnte doch nicht jedesmal mit ihr telefonieren, wenn diese Unruhe und das flaue Gefühl in seinem Magen kamen, ihn wieder übermannten. Er mußte versuchen, sich zur Ruhe zu zwingen und an etwas anderes zu denken, wollte er diese Sache nicht vermasseln. Es würde doch nicht mehr lange dauern. So gut es ging lehnte sich der Mann wieder in den Sitz zurück, legte das Telefon mit einer schnellen Bewegung auf den Beifahrersitz und schloß die Augen.„Nur in der Ruhe liegt die Kraft“ war es ihm mal irgendwo untergekommen. Vielleicht steckte ja ein wenig Wahrheit darin. Und wer nervös ist, der macht Fehler, war dann wohl die Konsequenz. Und wer Fehler macht, der wird irgendwann erwischt und wandert in den Knast. Das war das Resultat, die unerbittliche Realität. Und er wollte nicht noch einmal dort hin. Die paar Jahre in Stadelheim hatten ihm gereicht. Für den Rest seines Lebens. Die Zeit dort war ihm verhaßt gewesen. Und er hatte dort einfach nicht hineingepaßt. Es war nicht der richtige Ort für ihn, denn es gab nichts gut zu machen. Richtig! Er hatte eine gerechte Strafe verdient für das, was er angestellt hatte. Es wäre ihm lieber gewesen, etwas Produktives zu tun, in diesen zweieinhalb Jahren. Etwas, was der Gesellschaft -gegen deren Regeln er verstoßen hatte- und ihm irgendwie weitergeholfen hätte. Aber die ganze Zeit über Glühlampen für Backöfen zusammen zu schrauben konnte nicht der Sinn einer Bestrafung sein. Der Bärtige verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Beine bis dicht unter den Fahrersitz. Sonderlich weit aufgestiegen war er nicht, in der Knasthierarchie. Dafür hatten sie ihm zu wenig aufgebrummt und außerdem war er bei der Gefängnisleitung beliebt. Warum, das hatte man ihm nicht gesagt. Und es ging entweder nur das eine oder das andere. Entweder man war beliebt, oder man war Teil des Systems. Und einige Leute hatten es auf ihn abgesehen, ihm das Leben so richtig schwer gemacht. Es gab da so ein paar Möglichkeiten im Bau. Banale Kleinigkeiten, über die man im „normalen“ Leben draußen vielleicht nur kurz gelächelt hätte. Im Gefängnis aber taten sie weh. Aber dann hatte er da so ein paar Jungs kennengelernt. Freunde, die ihn beschützten. Mörder und Totschläger. Ganz harte Kerle der übelsten Sorte. Im Knast ist man auf so etwas angewiesen, wenn man nicht garade die Statur von Arnold Schwarzenegger besitzt oder sich auf andere Art und Weise einen gewissen Respekt verschafft hatte. Und er besaß beides nicht. Und wäre sie nicht gewesen, dann hätte er diese Zeit wohl nicht so unbeschadet überstanden. Seine Freundin war der einzige Lichtblick in dieser trostlosen Zeit, obwohl sie sich nur wenig sehen konnten. Aber sie hatten sich regelmäßig geschrieben. Beinahe täglich. Am letzten Tag hatte seine Freundin ihn dann abgeholt. Mit einem Strauß roter Rosen in der Hand. Die Zeit danach war schlimm. Den festen Willen, sauber zu bleiben, hatte er gehabt. Und er hatte sich beim Verlassen des Hauptores auch nicht noch einmal umgeschaut. Hätte er das getan, so wäre er wieder zurückgekehrt. „Diejenigen, die sich umschauen, kommen irgendwann wieder.“ hatten ihm seine neuen Freunde gesagt. Und die mußten es ja wissen! Er wollte nicht zurückkommen! Niemals. Aber es war schwer. Als Vorbestrafter hatte man keine reelle Chance. Wer nahm einen denn schon? Wollte man wirklich sauber bleiben, blieben nur diese mies bezahlten Aushilfsjobs. Aber es war ihm gelungen, sauber zu bleiben. Bis jetzt, jedenfalls.Dabei war das Geld, daß sie damals verlangt hatten, doch nur dafür bestimmt gewesen, endlich aussteigen zu können. Eine große Sache noch und dann Schluß! Hätte alles geklappt, wären sie nach Canada verschwunden und nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Aber ihm war da ein Fehler unterlaufen. Das schnelle Geld war ihm zu Kopf gestiegen. Sein Bruder Theo hatte ihn noch gewarnt, aber er hatte diese Warnung beiseite geschoben, sie einfach nicht gehört. Das hatte ihnen das Genick gebrochen. Diesmal durfte er sich keinen Fehler leisten. Nicht einen einzigen. Es hing zuviel daran! Zu viele Schicksale. Einfach nur die Ruhe bewahren. Das war das ganze Geheimnis, das immer gültige Erfolgsrezept! Der Mann kurbelte die Rückenlehne des Sitzes ein wenig nach hinten und verschränkte die Arme vor der Brust.Warum auch sollte sein Wagen ausgerechnet heute auffallen, ging es ihm durch den Kopf, während er die Augen wieder öffnete. Immerhin hatte er doch schon die ganze letzte Woche hier gestanden. Immer an der gleichen Stelle, immer zur gleichen Zeit. Von kurz vor sieben bis ungefähr halb acht. Nichts war passiert. Rein gar nichts! Keine morgendlichen Jogger, keine gassigehenden Hundehalter mit irgendwelchen verzogenen Vierbeinern, keine observierenden Blicke neugieriger Nachbarn hinter halbzugezogenen Gardinen. Und rote Kombivolvos gab es schließlich auch zu Dutzenden in der Stadt! Die Nummernschilder hatte er bereits vor ein paar Tagen besorgt. Abgeschraubt von zwei parkenden Wagen in der Innenstadt. Auch für den Fall, daß sich jemand eine diese Nummern notiert haben sollte, führte diese Spur also nicht zu ihm! Nur noch heute durfte sein Wagen nicht auffallen, ging es ihm durch den kopf. Nur noch heute. Nur noch dieses eine Mal! Der Mann drehte den Kopf leicht nach links und blickte wieder zum Eingangsbereich hinüber. Es hatte sich nichts verändert. Halb schielend und halb mit zugekniffenem Auge versuchte er, einen der halbmondförmigen Schmutzränder auf dem Seitenfenster seines Wagens in eine Ebene mit dem messingfarbenen Türklopfer der Eingangstür zu bringen, der scheinbar einen Löwenkopf darstellen sollte. Der Bärtige hob den Kopf ein wenig und versuchte den Halbmond so unter die Mähne des Löwenkopfes zu bugsieren, als thronte dieser auf einem Sockel. Es konnte nicht mehr lange dauern. Sein Opfer hatte das Haus die ganze letzte Woche immer zur gleichen Zeit verlassen. Zwischen viertel nach sieben und halb acht. Zufahrt und Eingangsbereich des gegenüberliegenden Anwesens waren verbunden durch eine tennisplatzgroße Fläche mit hellblitzendem Marmorkies. Auf der linken Seite dieses Areals zweigte ein ungefähr zwei Meter breiter Plattenweg zum Eingangspodest ab, führte dann weiter um das Haus herum, bis er vor einem dunklen Holztor schließlich endete. Ihm genau gegenüber befand sich ein mittelgroßer Anbau mit Flachdach, in dem noch einige Büros und ein Fitnessraum nebst Sauna untergebracht waren. Sie hatte es ihm erzählt, denn er selbst hatte noch nie auch nur einen Fuß in dieses Haus gesetzt. Rechts neben dem Anbau schloß sich die Doppelgarage an, deren Tore -wie die ganze letzte Woche hindurch- geschlossen waren. Auf dem kreisförmigen Garagenvorplatz erblickte er die riesige knorrige Eiche, deren Blätter sich leicht im Wind bewegten. Die doppelflügelige Eingangstür mit verglasten Rundbogen darüber war eingebettet in eine Gruppe antiker Säulen aus hellem Marmor. Auf den Kapitellen der Säulen lag ein ein angedeuteter dreieckiger Steinblock, dessen Spitze bis hoch in das erste Stockwerk reichte. Der Mann nahm jedes der vier Sprossenfenster ins Visier, die sich sowohl im Erdgeschoß als auch im ersten Stock zu beiden Seiten des Hauseinganges anschlossen. Die geblümten Gardinen hinter den Fenstern waren halb geöffnet und davor erblickte er weiße Blumenkästen mit Geranien und Petunien. Das Ganze wirkte ein wenig bombastisch auf ihn. Es war zwar hübsch anzusehen, aber ihm war es eine Nummer kleiner lieber. Bescheidener und nicht so prunkvoll. Ein Teil des Eingangsbereichs war verdeckt von einem schwarz-seidig schimmernden Doppeltor aus geschmiedetem Eisen. Vertikale Eisenstangen mit filigran wirkenden Blumenornamenten in den Zwischenräumen. Und es kam ihn so vor, als stellte dieses Tor nicht etwa die Verbindung zur Außenwelt dar, sondern vielmehr eine unüberwindliche Barriere. Eine Barriere, die nur den einen Zweck verfolgte, die Straße und das dahinterliegende Anwesen unerbittlich in zwei Welten zu trennen. Das Tor war gut und gerne zwei Meter hoch und so breit, daß zwei Autos bequem nebeneinander durchfahren konnten. Vorausgesetzt, man hatte zwei. Aber wer hier wohnte, der hatte zwei Autos. Mindestens. Und einen Dienstwagen obendrein! Jeder Flügel des dunklen Tores neigte sich an der Außenseite in einem sanften S-förmigen Bogen etwa einen halben Meter nach unten, woran sich zu beiden Seiten gemauerte Säulen aus hellen Klinkersteinen anschlossen. Auf den Säulen selbst erblickte er große Kugelleuchten aus Glas. Auf der linken Seite darunter eine große 8. Majestätisch sprangen ihm die Buchstaben „K.W.“ in goldfarbenen Lettern aus der Mitte des Tores entgegen. Klaus Warbs. Genauer gesagt: Klaus-Dieter Warbs.Es waren seine Initialen. Die Anfangsbuchstaben seines Opfers. Er spürte, daß von diesen scheinbar toten Lettern etwas bedrohliches ausging. Diese Buchstaben verkörperten Macht. Pure Macht, Geld und Energie! Selbst wenn das Tor, ja sogar das ganze Anwesen dahinter zerstört werden würde, diese goldfarbenen Buchstaben würden es überstehen. Sie würden weiter existieren. Unbeschadet! Und diese simplen Zeichen waren noch viel mehr. Sie waren der erhobene Zeigefinger, die allerletzte Warnung alles zu unterlassen, was die unnahbare Sphäre dieser dahinterliegenden Welt in irgendeiner Weise anzugreifen oder zu beeinträchtigten wagte. Er hatte Angst. Er wußte, er hatte Angst. Aber es war kontrollierbar, dieses Gefühl. Es war ohnehin zu spät, die Sache abzubrechen! Sie befanden sich auf einem langen Weg.

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