Dafür und Dagegen. Eckhard Lange

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Dafür und Dagegen - Eckhard Lange Antike Sagen - für unsere Zeit erzählt

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mit ihren abstrusen Ideen vom Klassenkampf und einer proletarischen Revolution. Bei den Alten ernteten sie meist nur ungläubiges Kopfschütteln mit ihren Reden, doch die Jungen, die aus dem Krieg Zurückgekehrten waren anfällig geworden für das, was sie Sozialismus nannten.

      Ulrich von Pendragon musste lächeln: Es geschahen schon merkwürdige Dinge hier in der tiefsten Provinz. Da war er doch kürzlich in eine solche Versammlung hineingeraten, und etliche jüngere Gutsarbeiter ereiferten sich so sehr, dass sie dem Sohn des Gutsherrn gegenüber nahezu handgreiflich zu werden drohten. Doch dann hatte er sich als Leutnant vorgestellt, und prompt fielen sie zurück in militärischen Gehorsam: Jawoll, Herr Leutnant! Zu Befehl, Herr Leutnant! Das saß ihnen noch in den Knochen nach vier Jahren Krieg. Aber wie lange würde dieses Gefühl noch dauern?

      Der junge Baron trat ins Zimmer zurück, sein Blick fiel auf den mächtigen Eichenschrank, der nicht nur die Kleider der beiden Brüder bewahrte, sondern tief genug war, um als Höhle zu dienen bei ihren Spielen. Er öffnete die Tür: Tatsächlich, da waren noch die Einstichlöcher ihrer selbstgebastelten Pfeile, mit denen sie auf eine handgemalte Scheibe an der Innenseite gezielt hatten. Wie oft hatten sie den Türflügel rasch zugeschlagen, wenn einer der Hausdiener ins Zimmer trat oder gar der Vater, um mit unschuldsvollem Gesichtsausdruck nach ihren Schulheften zu greifen.

      Der jüngere Bruder war übrigens der geschicktere Schütze, seine Pfeile saßen meist näher an der Mitte. Heute hätte ich wohl mehr Übung, dachte Ulrich. Wie viele Male hatte er in all diesen vier Jahren den Abzug seines Revolvers durchgedrückt, da draußen im Graben, wenn der Feind zum Angriff antrat. Und wie oft mochte er getroffen haben, irgendeinen Franzosen oder Engländer, einen dieser armen Teufel, die für ihr Vaterland ins Feld gezogen waren genau wie er. Dabei hatten sie doch alle ihr Vaterland, Freund wie Feind, fest umgrenzt, unbestritten. Und dann hatte er sich gefragt: Wieso bin ich hier eigentlich in diesem fremden Land? Wem diene ich damit – meinem Kaiser, meinem Volk, meiner Heimat?

      Ja, es waren revolutionäre Gedanken, die Ulrich von Pendragon, dieser pommersche Landedelmann, Glied einer uralten Adelsfamilie, auf den Gütern rings um Platikow ansässig seit Jahrhunderten, blaublütig und standesbewußt, plötzlich in den Sinn kamen angesichts des tausendfachen Sterbens um sich herum – Gedanken, die er sich in aller Eile wieder selbst verbot zu denken. Aber die sich nie ganz verdrängen ließen, die ihn umtrieben, belasteten, unsicher machten, und die er so manches Mal nur mit kräftigen Schlucken aus einer gewissen Flasche vertrieben hatte.

      Und jetzt, da sein Vaterland diesen Krieg verloren gegeben hatte und alle Ordnung in Frage gestellt war, jetzt, da all dieses Kämpfen und Sterben vergeblich erschien – jetzt stellten sich diese Fragen drängender als je zuvor. Und eines war ihm plötzlich bewusst geworden: Hier in Platikow, in der pommerschen Provinz, würde er niemals eine Antwort finden. Die Kreise, in denen er verkehrte, verkehren musste, wussten sie nicht, weil sie schon die Fragen nicht verstanden. Plötzlich sah Ulrich es klar und deutlich: Er musste fort, dorthin, wo darüber geredet und gestritten wurde.

      Der dumpfe Gong schallte durch die Flure, der wie stets zum Abendessen in den Speisesaal rief, wo sich unter den strengen Blicken der Vorfahren, die aus ihren geschnitzten, goldgefassten Rahmen auf die Lebenden herabblickten, die Familie und einige Auserwählte um den mächtigen Eichentisch versammelten, der schon Generationen der Pendragons zu ihren Mahlzeiten gedient hatte. Jeder hatte dort seinen angestammten Platz, und jeder erhielt sein Essen nach festgelegter Rangfolge, wie es die Ordnung gebot.

      Geordnet war auch alles andere: Wer zu welcher Zeit das Wort ergreifen durfte, ehe das allgemeine und zwanglose Gespräch freigegeben wurde, wenn der letzte Gang mit einem letzten Trunk beschlossen worden war. Da konnte Ulrich dann endlich aussprechen, was er soeben beschlossen hatte: „Ich werde ein Studium beginnen.“ Erstaunen ringsum, fragende Blicke. „Es scheint mir wichtig, dass jemand in unserer Familie sich zum Juristen ausbilden lässt. Du weißt selbst, Vater, wie schwer es heute geworden ist, einen Betrieb wie den unseren ohne den Rat von Anwälten zu führen. Mein Bruder hat inzwischen beste Kenntnis vom Wirtschaften hier auf den Gütern, er kann das sicherlich weit besser als ich.“

      Und als ob er den Einwand des Vaters erspürte, ergänzte Ulrich: „Ich weiß – die Leitung von Platikow steht dem Erstgeborenen zu. Aber was spricht dagegen, den Besitz gemeinsam zu verwalten – der eine mit den Kenntnissen des Juristen, der andere mit dem Wissen um die Landwirtschaft. Du kennst deine Söhne, Vater. Wir streiten uns zwar gelegentlich, aber wir reden miteinander, und wir hören auch aufeinander, wenn es um die besseren Argumente geht. Doch noch bist du hier Herr auf Platikow, und das hoffentlich noch recht lange.“

      Der Vater sah ihn aufmerksam an, und er musste sich eingestehen, dass er juristischen Rat schon oft genug hätte gebrauchen können. „Und wohin willst du gehen?“ „Ich sehe da eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Königsberg oder Berlin. Und ich wähle die letztere. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, wird es im Osten Gebietsveränderungen geben. Die Polen werden Zugang zur Ostsee erhalten, das melden alle Gazetten. Dann liegt Königsberg außerhalb des Reiches. Was nützt mir dann eine ehemals ruhmreiche Fakultät! Nein, ich bevorzuge Berlin. Und außerdem: In der Reichshauptstadt wird auch in Zukunft über Deutschland entschieden, hier kann man Verbindungen knüpfen, die auch uns in der Provinz zugute kommen. Und ich will nicht nur studieren. Wie auch immer das Reich aussehen wird, irgendwer muß es regieren.“

      Der alte Baron lächelte: „Und das wirst du dann sein? Gut, auch Bismarck hat einmal als Landjunker angefangen. Aber das waren andere Zeiten.“ Ulrich lächelte zurück: „Erst einmal würde es mir reichen, ein Studium erfolgreich abzuschließen. Das ist Ziel genug für die nächste Jahre. – Du bist also einverstanden?“ Der Vater nickte. „Fast alle unserer Vorfahren dienten als Offiziere. Aber werden wir nach diesem Krieg noch eine Wehrmacht haben, noch Offiziere brauchen? Beamte aber brauchen wir immer, und bislang stellte der Adel auch die höchsten Staatsbeamten. Und das sind nun einmal vor allem Juristen. Nein, deine Pläne sind einsehbar. Ich werde dir nicht im Weg stehen.“ Und damit war alles entschieden.

      3. Kapitel

      Was Ulrich bislang keinem Menschen verraten hatte: Die ganzen vier Jahre, die er an der Westfront verbrachte, hatte er ein Tagebuch geführt. Allerdings trifft dieser Begriff nicht ganz: Es gab keine durchgehenden, täglichen Eintragungen, das verbot schon die jeweilige militärische Situation – aber in den Zeiten relativer Ruhe an der Front hatte er immer wieder zu dem abgeschabten Heft gegriffen, um nicht nur Geschehnisse, skurrile oder tragische Erlebnisse zu notieren, sondern auch allerlei Reflexionen, Gedanken über Krieg und Frieden, eine gerechtere Ordnung der Gesellschaft, über den Menschen, seine Leidenschaften, Fehler und Irrtümer, seine Wünsche und Fantasien. Das alles fand sich, wild vermischt, nur dem jeweiligen Augenblick geschuldet und seiner Stimmungslage, in diesen Schulheften, die er in versiegelten Päckchen nach und nach heimgeschickt hatte und die nun ungeöffnet in jenem barocken Schrank lagen. Er hatte sie auch nach der Heimkehr nicht angerührt, wusste er doch nicht, wozu sie ihm eigentlich dienen könnten.

      Sagten wir, niemand wisse von dieser Marotte des jungen Offiziers? Nein, auch das wäre falsch: Es gab einen, der davon wusste, ja, der ihn mehrfach zum Schreiben ermuntert hatte, auch wenn ihm der Inhalt meist unbekannt blieb: Es war sein direkter Vorgesetzter, Hauptmann Merlin, nur wenig älter als er und einer der wenigen bürgerlichen Kompaniechefs im Heer des Reiches. Mit ihm verband den jungen Ulrich von Pendragon bald eine besondere Freundschaft, und sie beruhte auf dem gemeinsamen Interesse an der Ausdruckskraft der Sprache – nicht gerade verbreitet unter den übrigen Offizieren der Division.

      Merlin hatte bereits einige Semester Slawistik studiert, ehe die Mobilmachung ihn vor ganz andere Herausforderungen stellte. Und er war froh, wenigstens einen Gleichgesinnten im Offizierskorps zu finden, in dem er auch sonst als Außenseiter galt: Sein Studienziel, seine bürgerliche Herkunft, und vor allem seine Abstammung trennten ihn von den Kameraden aus den deutschen Adelsfamilien mit ihrem meist generationenlangen Stammbaum.

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