Dafür und Dagegen. Eckhard Lange
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So war Ulrich von Pendragon froh, nicht in die Sache verwickelt worden zu sein. Und er zog daraus seine Lehren: Halte dich möglichst aus allem heraus, warte ab, wie sich die Dinge entwickeln. Was du selber denkst, behalte für dich. Dies sind nicht mehr die Zeiten, in denen alles überschaubar ist, seine Ordnung hat und auch behält. Er war in diesen Tagen zum Skeptiker geworden, und das war der erste Schritt zu einem Zyniker. Doch das alles war ihm nicht bewusst.
4. Kapitel
Aus dem Fenster seines Logis hatte Ulrich die Lastkraftwagen fahren sehen, besetzt mit den Soldaten des Freikorps, hatte auf Helme und Gewehre geblickt und Schüsse aus dem Regierungsviertel gehört. Er hatte auch auf Gruppen streikender Arbeiter hinuntergeblickt, die zum Lustgarten zogen. Das alles hatte ihn aufgewühlt, und es hatte ihn zweifeln lassen an der Vernunft des Menschen, an seinem Verstand, seinem Urteilsvermögen. So wurde eine simple Aufgabe, in einem juristischen Seminar den Studenten gestellt, zu einem Wendepunkt in seinem Leben.
Der Professor – er konnte sich später trotz allen Grübelns nie seines Namens erinnern - hatte eine einfache Szene geschildert: „Stellen Sie sich bitte folgendes vor, meine Herren: Sie befinden sich auf der Straße und beobachten, wie eine Mutter mit einem kleinen Jungen an der Hand auf dem Trottoir, oder, wie man neuerdings sagt, auf dem Bürgersteige entlanggeht. Da nähert sich hinter ihrem Rücken ein Automobil auf der Fahrbahn. Ehe es jedoch die beiden überholt, reißt sich das Kind plötzlich von der Hand der Mutter los und läuft auf die Straße. Der Fahrzeuglenker bemüht sich, das Gefährt noch zum Stehen zu bringen, doch es erfasst das Kind und schleift es mit sich. Der Junge ist also dadurch verwundet, vielleicht sogar getötet worden. Soweit das Faktum.
Wie aber werden Sie es später schildern? Sie werden es kaum ohne Emotionen tun, denn das Schicksal dieser drei Personen wird sie berühren. Und – das ist der eigentliche Punkt: Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit auch sofort für oder gegen die eine oder andere Person Stellung beziehen, unbewußt bereits ein Urteil fällen. Und dieses Urteil wird in ihren Bericht hineinfließen, ohne dass Sie es wollen oder auch nur bemerken. Das aber wiederum wird von Ihrer eigenen Situation abhängen.
Nehmen wir an, Sie haben häufiger Gelegenheit, in einem Automobil zu fahren, Sie besitzen vielleicht sogar die Erlaubnis zum Führen eines solchen – werden Sie sich nicht auf die Seite des Chauffeurs schlagen? Sie können ja seinen Schrecken, sein vergebliches Bemühen, den Unfall zu vermeiden, nachempfinden; und folglich werden Sie dem Kind alle Schuld zuweisen, vielleicht auch die Mutter anklagen, sie hätte den Knaben festhalten müssen.
Ist Ihnen jedoch das Automobil fremd, dann erscheint es Ihnen gefährlich, und Sie fordern vom Fahrzeugführer ausreichend Vorsicht, die Sie hier also vermissen. Haben Sie gar kleinere Geschwister oder vielleicht einen Neffen im Kindesalter, mit dem Sie gerne ein wenig spielen, leiden Sie mit dem Kind, entschuldigen seine natürliche Lebhaftigkeit, die Ihnen ja vertraut ist, und verlangen die gebotene Rücksicht und Weitsicht von den Erwachsenen.
Und vielleicht fühlen Sie auch mit der Mutter, die dieses Kind mit Schmerzen geboren hat und es nun mit Schmerzen wieder verlieren muß. Das alles prägt Ihre Wahrnehmung und damit auch Ihre Aussage, und diese Aussage ist dann Grundlage für die Entscheidung, die ein Richter treffen muß. Ganz abgesehen davon, dass es auch dem Richter nicht immer gelingt, solche eigenen Erfahrungen aus seinem Urteil herauszuhalten. Versuchen Sie bitte für die nächste Sitzung, jeweils zwei Zeugenaussagen zu formulieren, ohne dabei die Fakten zu verändern.“
Am Abend suchte Ulrich den Freund Merlin auf. Er schilderte ihm, was er in dieser Sitzung erfahren hatte, und schloß: „Wenn das schon für eine simple Zeugenaussage gilt, die ja nur Tatsachen wiedergeben soll, um wie viel mehr ist dann jede literarische Äußerung, ja bereits jeder Artikel des Journalisten im Tageblatt weit ab von der Wirklichkeit, von der Wahrheit.“
„Du meinst also, es gibt im Grunde keine Objektivität?“ fragte Merlin zurück, und als Ulrich nur traurig nickte, fuhr er fort: „Aber es gibt eine innere Wahrheit, deine eigene Wahrheit. Und sie ist deshalb wahr, weil du mit ihr etwas ändern, Menschen bewegen willst. Es gibt die Wahrheit des Besseren, des Gerechten, ja, des Guten. Ist es nicht Aufgabe aller Literatur, für sie einzutreten?“
Doch Ulrich war wenig überzeugt: „Der Professor erwartet, dass seine Studenten verschiedene Wahrheiten formulieren, nur so, gleichsam zur Übung. Damit macht er sie zu Herren über die Wahrheit. Entscheidend ist allein die Formulierung der Aussage, der Stil. Das Lied, das du singst – wer bestimmt darüber? Wirklich du selbst, oder nicht doch der, dessen Brot du essen möchtest, essen musst, um nicht zu verhungern? Und wie steht es dann mit diesem anderen Sprichwort, das ja wohl aus der Bibel stammt: Niemand kann zwei Herren dienen? Wirklich nicht? Wenn es ums Brot geht – da reicht oft der eine Herr nicht. Und muß er dann vom anderen wissen?“
Merlin blickte den Freund aufmerksam an: „Möglich ist vieles. Möglich ist alles, wenn du nur nach dem Stil, der Formulierung fragst. Wer nur gefallen will, wer allein seine Lieder zu Brot machen will, braucht nur das nötige Geschick. Auf seine innere Wahrheit darf er dabei nicht mehr hören, und auf sein Gewissen schon gar nicht. Er hat vielleicht Erfolg, weil er den jeweils Mächtigen schmeichelt. Aber er wird nicht in die Geschichte der Literatur eingehen, da bin ich gewiß. Was wir nach Jahrzehnten, nach Jahrhunderten noch lesen, bedenken, bewundern, das hatte diese innere Wahrheit, denn sie ist zeitlos. Oder sagen wir so: Das hat eine Seele.
Was du da angedeutet hast, das wird immer seelenlos bleiben. Weil der, der es schrieb, seine Seele verkauft hat, an wen auch immer – an den Mammon, oder an eine Klasse, an eine Ideologie, an einen Herrscher. Und ich sage dir das eine: Er wird vielleicht angesehen sein, vielleicht auch reich, an Einfluß oder an Geld, aber er wird nicht glücklich sein. Niemals. Das ist sein Preis. Und der ist hoch – zu hoch, findest du nicht auch?“
Man müsste es ausprobieren, dachte Ulrich, aber er sprach es nicht aus. Er wollte dem Freund nicht wehtun. Und er war sich auch nicht sicher, ob er es könnte. Aber die Versuchung blieb. Er musste an Dr. Faustus denken: Hatte Goethe nicht eben diese Versuchung geschildert – die eigene Seele zu verkaufen gegen... ja, gegen was? Und hatte nicht eben dieser Faust bekannt, dass zwei Seelen in seiner Brust wohnen? Wie wäre es dann, nur die eine zu verkaufen? Ihm bliebe ja immer noch die andere. Er musste lächeln. Merlin aber wertete dieses Lächeln als Zustimmung, doch das war ein Irrtum. Er würde ihn erst viel später erkennen.
5. Kapitel
Die Lage in der Hauptstadt hatte sich weitgehend normalisiert, die Zeitungen berichteten nur noch von Aufständen und Kämpfen aus anderen Teilen des Reiches. Aber die Spaltung der Gesellschaft war auch hier geblieben, Linke und Rechte standen sich unversöhnlich gegenüber; Monarchisten, Demokraten und Kommunisten stritten nicht nur mit Worten, sondern oft genug auch mit Fäusten und Gewehren um die Macht. Das spiegelte sich auch in der Presse Berlins. Urich von Pendragon verfolgte nicht nur die verschiedenen Berichte unterschiedlich gefärbter Zeitungen mit großem Interesse, vor allem, wenn sie die gleichen Ereignisse nicht nur kontrovers kommentierten, sondern auch sehr unterschiedlich berichteten. Immer wieder kam ihm dann jene Übung aus dem juristischen Seminar in den Sinn, und immer wieder auch das Gespräch mit Merlin, dem nachdenklichen, besonnenen Freund.
Es gab noch ein anderes Interesse an Berlins Zeitungen: Ulrich hatte begonnen, gelegentlich kleine Artikel, vor allem über kulturelle Ereignisse, bei dieser oder jener Redaktion einzureichen, und war erfreut, dass sie oft auch angenommen wurden. Zunächst war es einfach sein Stolz darauf, etwas Schriftliches von sich veröffentlicht zu sehen, bald aber stellte er fest, dass er die Honorare gut verwenden konnte. Zwar erhielt er stets pünktlich den monatlichen Wechsel des Vaters, aber was vor kurzem noch ausreichte für einen angemessenen