Dafür und Dagegen. Eckhard Lange
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Er konnte genauso das alltägliche Tun des Gutsarbeiters schildern wie seine Ängste als Soldat im Graben irgendwo an der Marne, er porträtierte die Junker und ihre oft skurrilen Marotten, die Feste auf den Gütern und die Soireen in den Schlössern, wie alle Herrenhäuser gemeinhin genannt wurden. Breites pommersches Platt wechselte mit der gekünstelten Sprache mancher Adelsfamilien. Er konnte jeden seine Weltsicht vortragen lassen, und jeder klang glaubhaft – das war das Geschenk seiner Übungen im Berliner Gazettenkrieg.
Aber er hatte keine Botschaft, die er verkünden wollte, er wollte niemanden wachrütteln, auf seine Seite ziehen – all diese teuflischen Einflüsse, die er doch so gut beherrschte, standen ihm plötzlich nicht zur Verfügung. Er wollte nur schildern, malen, beschreiben – kurz, er wollte erzählen und jedes Urteil dem Leser überlassen.
Und so wuchs Tag um Tag das Manuskript, immer neue Gedanken, neue Bilder reihten sich ein, es entstand ein üppiges Gemälde vom Leben dort draußen in der Provinz, das den Städtern, vor allem den Berlinern, doch bislang nur provinziell und damit unwichtig erschien. Nun aber tat sich vor ihren Augen ein ganzer Kosmos auf, unbekannt wie ein neu entdeckter Kontinent, spannend und faszinierend. Ulrich von Pendragon schrieb wie im Rausch, und er schrieb das Buch seines Lebens. Zum ersten und vielleicht einzigen Mal schrieb er sich eine innere Wahrheit von der Seele – eben weil er niemand eine Wahrheit verkünden wollte.
Kaum, dass er zu den Mahlzeiten im Kreis der Familie erschien, er saß bis in die Nacht in jenem Zimmer dort oben, das er einst mit seinem Bruder geteilt hatte. Hin und wieder wanderte er durch den Park, stets wie in Gedanken, manchmal stand er am Flussufer und sah den treibenden Blättern zu, die der Herbststurm ins Wasser geweht hatte. Und manchmal eilte er plötzlich zu den Ställen, sattelte die Stute, um die Landschaft in sich aufzunehmen, wie ein Maler seine Motive mit Augen und Gedanken durchdringt.
Er hatte seine Aufzeichnungen aus den Tiefen des Schrankes hervorgeholt, blätterte in den Heften, schrieb hier und dort ganze Passagen ab, formulierte anderes völlig neu, und gelegentlich begab er sich in die Bibliothek des Schlosses, um Chroniken zu studieren. Immer aber kehrte er so rasch wie möglich in die Einsamkeit seiner Schreibwerkstatt zurück, um die gewonnenen Einsichten festzuhalten. Immer umfangreicher wurde das Werk, aber er zweifelte nicht daran, dass er es zu einem Abschluß bringen könnte.
Das neue Semester hatte längst begonnen, doch er bemerkte die fragenden Blicke des Vaters gar nicht, und als dieser endlich sein Studium ansprach, antwortete er nur vage, er müsse eine größere Arbeit abliefern, und das sei zur Zeit entscheidend für ihn. Und im Grunde entsprach es ja auch der Wahrheit.
Es war Mitte Dezember des Jahres 1923, als Ulrich mit einem inneren Schauer den Federhalter zur Seite legte. Eben hatte er die letzten Sätze zu Papier gebracht, das große Werk schien vollendet. Er würde es noch einmal, Seite für Seite, wie das Buch eines anderen lesen, hier und dort Korrekturen anbringen, mögliche Widersprüche beseitigen, die eine oder andere Stelle sprachlich glätten oder um einige Ergänzungen verdeutlichen, aber das war handwerkliche Feinarbeit, und er würde zugleich das Ganze in sich aufnehmen.
Es waren noch etwa vierzehn Tage bis zum Weihnachtsfest, das die Familie stets gemeinsam in Platikow feierte. Ulrich beschloß, diese Zeit noch im väterlichen Schloß zu bleiben, und da sein Bruder für den Schriftverkehr der Gutbetriebe im Besitz einer Schreibmaschine war, könnte er auf dieser sein Manuskript in Druckschrift übertragen. So brauchte er die teils schlecht lesbaren Seiten keinem Schreibbüro anzuvertrauen in der ständigen Sorge, der Text könnte verfälscht werden. Daß dies für ihn als ungeübten Schreiber eine langwierige Prozedur sein würde, bei der er sich möglichst keine Fehler leisten durfte, wurde ihm erst im Laufe der kommenden Tage bewusst. Aber er arbeitete mit fast der gleichen Besessenheit wie beim Verfassen des Werks.
Die schwierigste Entscheidung war übrigens jene, die doch die einfachste sein müsste: Wer war der Verfasser dieses Werkes? Und plötzlich kehrten die Berliner Dämonen zurück. Rasch verwarf er alle Gedanken an seine bisherigen Pseudonyme – mit jedem hätte er seinem Buch bereits eine bestimmte Absicht unterstellt, eine politische Heimat gegeben und damit jene innere Wahrheit verraten. Er hätte ein neues, ein weiteres Pseudonym wählen können, aber auch das erschien ihm ungemessen. Warum sollte er sich diesmal verstecken hinter einem unbekannten Namen? So beschloß er nach mancher Stunde voll innerer Zerrissenheit, seinen wirklichen Namen auf das Titelblatt zu setzen. Und er tat es ganz zum Schluß mit einem feierlichen Gefühl.
7. Kapitel
Bereits zu den Weihnachtstagen setzte anhaltender Schneefall ein, der Park vor den Fenstern überzog sich mit einer dichten weißen Decke, die Kronen der Bäume trugen widerwillig ihre Last. Der Vater hatte längst sein Automobil in einem Schuppen abgestellt, und der Kutscher brachte ihn mit dem Schlitten auf die Güter, bis die Pferde im tiefen Schnee versanken und der Baron seine Fahrten auf das Notwendigste beschränkte, um die Tiere zu schonen.
Ulrich blieb noch über den Neujahrstag hinaus, obwohl es ihn nun drängte, nach Berlin zurückzukehren. Als der Himmel wieder die winterliche Bläue zeigte und auch der Wind einschlief, so dass alle Schneewehen von den Bahnstrecken geräumt worden waren, schlug er den Karton mit seinem Manuskript sorgfältig in Ölpapier, befestigte einen Holzknebel an der Verschnürung und umhüllte sich mit seiner Winterkleidung, um sich dann zum Bahnhof bringen zu lassen.
Der Schnee auf Berlins Straßen sah eher grau und braun als weiß aus, ein trister Anblick nach den Wochen im pommerschen Winter, aber Ulrich war dennoch froh, wieder in der Hauptstadt zu sein. Nun galt es, einen geeigneten Verlag zu finden. Seine Kontakte zu den verschiedenen Zeitungsredaktionen halfen ihm nicht, als Buchautor und unter dem Namen von Pendragon war er unbekannt. Außerdem sollte seine bisherige journalistische Tätigkeit ja auf jeden Fall dem Lektorat verborgen bleiben.
Ulrich war froh, dass von ihm keinerlei Fotos in den Archiven der Presse ruhten, er hatte jede Begegnung mit Fotografen tunlichst vermieden, um seine unterschiedlichen Identitäten zu wahren. So entschloß er sich, bei Samuel Fischer vorzusprechen, und es freute ihn, dass man in diesem renommierten Hause sein Manuskript zur weiteren Prüfung annahm. Das Warten auf einen Bescheid fiel ihm schwer, obwohl er seine juristischen Studien wieder aufnahm, schon um sich abzulenken.
Und dann hielt er eines Tages ein Schreiben des Verlages in der Hand, das ihn zu einem Besuch bei einem Lektor aufforderte. Trotz allem Selbstbewusstsein - er hatte ein unangenehmes Gefühl an jener Stelle des Körpers, wo sein Magen in die verschlungenen Därme überging, als er das Verlagshaus betrat. Doch er wurde überaus freundlich empfangen, und der Lektor fand allerlei lobende Bemerkungen zu seinem Werk, brachte zwar eine Reihe von Änderungsvorschlägen vor, eröffnete ihm jedoch, der Verlag würde das Buch zur Veröffentlichung annehmen, zunächst allerdings in kleiner Auflage. Als noch unbekannter Autor müsse er das verstehen.
Man würde die Leipziger Buchmesse und überhaupt die ersten Verkaufsergebnisse abwarten. Aber Ulrich wusste: Wenn Fischer überhaupt ein Werk herausbrachte, läge es rasch auf den Schreibtischen der wichtigsten Feuilletonisten, und deren Urteil würde über ihn und sein Buch entscheiden. Also galt es wieder zu warten.
Es war März, als er die ersten gebundenen Exemplare auch in den Auslagen der Buchhandlungen entdeckte. Und was er sich zwar ständig erhofft, aber nie wirklich erwartet hatte, trat ein: Die literarische Welt in Berlin sprach über sein Buch, und – es wurde gekauft. Die Saga aus der Provinz, diese Erzählungen