Broken Bones. Andrea Appelfelder
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Steffen Rausch war ein Mann, der sich selbst zwei Gesichter geschaffen hatte. Einmal war er der dreißigjährige, hochbegabte Millionär, der selbst gut aussehend war und immer ein hübsches blutjunges Menschenmädchen an seiner Seite hatte.
Diese Mädchen waren meist gerade erst volljährig geworden, und aus der untersten Unterschicht der Bevölkerung. Jene waren auch nur wenige Wochen an seiner Seite. Nach einigen schönen Tagen und einer öffentlichen Trennung, hatte man keine seiner Freundinnen jemals wiedergesehen.
Der junge Mann auf dem Dach wusste, was das bedeutete, er saugte sie aus und tötete sie nachdem er genug von ihnen hatte.
Doch das zweite wahre Gesicht von Steffen war das des bluttrinkenden Mörders kleiner Kinder, der immer dann weiterzog, wenn er kurz vor seiner Enttarnung stand.
Seine blutigen Spuren zogen sich eine lange Zeit durch ganz Europa, danach verschwand er für einige Jahrzehnte von der Bildfläche, um später als komplett neue Person, aber noch viel blutrünstiger, wieder aufzuerstehen. Damit sollte nun aber endgültig Schluss sein.
Man hatte jemanden von ganz Oben geschickt, um dem ganzen Treiben ein Ende zu bereiten. Dieses Mal hatte er nämlich einen entscheidenden Fehler gemacht, der Vampir hatte sich zu einem vorbestimmten Termin dazu hinreißen lassen sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Bisher versuchte er niemals durchschaubar zu sein oder sich gar von jemanden aufspüren zu lassen, doch nun lockte es dem Mann mit den braunen Haaren und dem arroganten Lächeln, einen Preis für das, was er getan hatte, zu erhalten.
Der Killer hatte eine imposante Rede vorbereitet, in welcher er den Bundeskanzler und alle Anwesenden bloßstellen wollte. Er hatte eigentlich nichts gegen diese Personen. Er wollte einfach nur zeigen, dass er unbesiegbar und den Menschen überlegen war.
Die Stimmung auf der mit der Ehrung verbundene Party war fröhlich und ausgelassen. Berühmte deutsche und amerikanische Schauspieler und angesehene Politiker tranken und redeten in froher Erwartung auf diese selten gewordene Auszeichnung miteinander.
Der Junge, welcher noch im Teenageralter war, sah sich das Geschehen aus der Ferne, durch sein Zielfernrohr an und lachte leise.
„Wenn sie nur wüssten, was ihr großer Held in Wirklichkeit für einer ist.“
Aber so schnell, wie er zu lachen begonnen hatte, verstummte er wieder und seine Miene verhärtete sich. Nun wurde er fast schon ein wenig melancholisch.
„Ich bereue schon jetzt, dass ich gelacht habe. Das hier ist schließlich kein Spiel. Aber wenigstens habe ich mich für den richtigen Weg entschieden. So habe ich wenigstens die Möglichkeit, ein Monster, wie ihn hier, zu töten. Man müsste jeden, der Kindern solch unvorstellbares Leid antut, töten. Aber das wird wohl nicht möglich sein. Es gibt einfach zu viele, welche das Blut junger Menschen begehren.“
Der Preisträger wollte gerade das Podest für seine Rede betreten, als er einen Rückstoß spürte und an der Stirn blutend nach vorne kippte.
Stille breitete sich zwischen den betroffenen Zuschauern aus. Die Blicke aller Versammelten richteten sich auf den Stürzenden, aber noch bevor sein Körper zu Boden prallte, löste er sich in Asche auf. Der kalte Wind zerstreute und vermischte die Überreste schließlich mit dem Schnee, der immer noch vom Himmel fiel. Der einst so selbstsichere Vampir war nun nicht mehr das Problem der Menschheit. Der einzige Ort, an dem er jetzt noch Schwierigkeiten machen konnte, war das Reich der Toten, für das Reich der Lebenden war er nun ein für alle mal verloren.
Die Menge, von den Schönsten der Schönen Deutschlands und Amerikas Highsociety, die das Theater mit ansehen mussten, schrien und rannten wie wild durcheinander. In diesem wilden Getümmel nahmen die Passanten keine Rücksicht auf ihre Kameraden und bahnten sich ihre Wege mit allen Mitteln in das sichere Innere. Schließlich musste jeder von ihnen fürchten, der Nächste zu sein.
Niemand von ihnen konnte auch nur ansatzweise ahnen, dass es der Schütze nur auf den smarten Vampir abgesehen hatte.
Das Chaos, was der Todesengel auf dem Dach des Hochhauses verursacht hatte, bekam der junge Mann, den man jetzt erst richtig erkennen konnte, gar nicht mehr mit. Er hatte seinen Job erledigt und der Rest war ihm wie immer egal.
Der Schütze, der erst sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein musste, stand auf und verstaute seine Waffe, die noch etwas warm vom abgefeuerten Schuss war, in den mitgebrachten Waffenkoffer.
Er hatte pechschwarzes Haar, war schmächtig und hatte ein ebenmäßiges, hübsches Gesicht, was er aber größtenteils unter einem dicken grauen Schal verbarg.
Nachdem er den Waffenkoffer geschlossen hatte, stand er auf und lief bis zur Dachkante und sprang von dort aus die fünfundzwanzig Stockwerke des Hochhauses hinab. Aber anstatt auf dem harten Asphaltboden aufzuprallen, landete er behände und problemlos auf seinen eigenen Füßen. Dieser junge Assassin war nämlich auch ein Vampir.
Auf dem Gehweg angekommen, schaute er sich kurz um, ob er bemerkt worden war. Ihm fiel nichts Verdächtiges auf und so mischte er sich, als wäre nichts geschehen, zwischen die umherstehenden Menschen, die auf die zwölf Schläge der großen Kirschturmuhr warteten.
Die Polizei, welche schon von der schrecklichen Tat in Kenntnis gesetzt wurden war, war bereits mit mehreren Einsatzwagen im Anmarsch. Von überallher waren die Sirenen zu hören.
Dem Vampir interessierte das alles, was er angerichtet hatte, nicht. Er ging einfach mit seinen Koffer in der Hand, in der sich noch die Tatwaffe befand, weiter.
Was machte es schon, wenn die reichen Weicheier etwas Angst schoben. Alles, was zählte, war, dass er diesen Vampir, der soviel Leid verursacht hatte, getötet hatte.
Plötzlich hörte er ein lautes Knallen, angsterfüllt wandte er sich dem Himmel zu und sah die bunten Lichter des Feuerwerks. Zeitgleich hörte er das Schlagen der Uhr und dachte wehmütig: Mitternacht, schon wieder ist ein neues Jahr in meinem Dasein vergangen. Was dieses neue Jahr wohl wieder bringt?
Er ließ die letzten Jahre in seinem Kopf Revue passieren, aber in diesem Moment musste er auch an den anderen Vampir denken.
Man hatte mich beauftragt, diesen Vampir für das, was er getan hat, zu töten. Es ist nicht so, dass ich ihn in Schutz nehmen möchte, aber Menschen, die etwas Ähnliches oder sogar Schlimmeres tun, dürfen entweder weiterhin frei herumlaufen oder sie bekommen einen langen Urlaub in einem Gefängnis mit gratis Kost und Logis.
Sie können dort sogar weiterleben und wenn sie wieder herauskommen, machen sie dann einfach da weiter wo sie aufgehört haben.
Irgendwie finde ich das alles nicht fair. Vampire sind anders als Menschen, das kann man nicht abstreiten. Bei uns kommt es aber nur sehr selten vor, dass wir Menschen töten und noch seltener kommt es vor, dass wir uns gegenseitig töten. Allerdings kann ich auch nicht von allen sprechen, schließlich gibt es noch die Süchtigen, die ich berücksichtigen muss. Das sind diejenigen von uns, die dem Blut völlig verfallen sind.
Blut ist für die, die so sind wie ich, eine Droge, über die man triumphieren kann oder von ihr beherrscht wird. Diese, welche dem roten Lebenssaft völlig verfallen sind, haben nur noch zwei Bedürfnisse: Die Selbsterhaltung und das Aufnehmen von Futter.