Tom Winter und der weiße Hirsch. Nicole Wagner

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Tom Winter und der weiße Hirsch - Nicole Wagner

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von fünf Jahren erklärt hatte, zauberhafte Wesen wie Kobolde und Trolle seien keineswegs Auswüchse der Fantasie, sondern genauso real wie Herr und Frau Feuerecker, die Nachbarsleute. Tom Winter, sein dreizehnjähriger Sohn, war nach dem Tod seiner Mutter vor acht Jahren ungefähr der einzige, der den Vermutungen seines Vaters Glauben schenkte.

      Tom erwachte von einem Krachen, das wie das Losgehen eines Kanonenrohrs klang. Er saß kerzengerade im Bett und lauschte, was sich im Erdgeschoss abspielte. Er meinte, seinen Vater singen hören zu können und zwar zur leicht abgeänderten Melodie von Alle Jahre wieder.

      „All die Jahre der harten Suche

       Endlich hab ich den Beweis

       Soll'n sie lachen und auch kichern

       Endlich rechnet sich der Fleiß!“

      Tom sah auf die Uhr, die rot leuchtenden Ziffern zeigten fünf nach Zwölf an. Er erinnerte sich, dass er geträumt hatte und dass in seinem Traum ein großes Tier vorgekommen war, ein Pferd vielleicht oder ein Wolf. An weitere Details konnte er sich nicht erinnern, das konnte er nie, wenn er träumte. Rasch zog er sich Jeans und T-Shirt an und schlüpfte aus der Tür. Wie er erwartet hatte, brannte Licht im Keller, dem privaten Forschungslabor seines Vaters, wo er nach Beweisen ausgestorbener oder für der Fantasie entsprungen geglaubter Wesen suchte. Reginald musste die Schritte seines Sohnes auf der Treppe gehört haben, denn er riss die Tür auf und bat ihn mit vor Freude strahlenden Augen hinein.

      „Hier ist er, Tom, der Beweis, auf den ich solange gewartet habe! Der Beweis, dass die Anderswelt existiert!“ Reginald weinte fast vor Glück.

      Tom sah, dass auf einem Tisch in der Mitte des Raumes, umgeben von hohen Regalen und blechernen, leise summenden Maschinen, ein kleines, pelziges Etwas lag. Man sah auf den ersten Blick, dass es tot war. Im ersten Moment hielt er es für eine Katze und er fragte sich, wie zum Teufel sie seinem Vater von Nutzen sein konnte. Dann erkannte er, dass es kleiner war als eine Katze und dichteres, rostrotes Fell hatte; die Schnauze war beinahe die einer Fledermaus und die leeren Augen waren riesig und giftgrün. Tom war gleichzeitig fasziniert und abgestoßen. Es sah so verletzlich aus, so unschuldig, wie es da mit gebrochenen Läufen lag. Und auf dem Rücken - konnte es sein? - schossen ledrige Flügel zwischen den Schulterblättern hervor.

      Wie in Trance ging Tom näher, er streckte eine Hand aus und berührte mit zitternden Fingern das Fell; es war struppiger als das eines Haustiers, beinahe borstenhaft. Ihm war klar: dies war kein Vertreter der bekannten und in Naturkundeführern aufgelisteten Tierarten.

      „Was ist das?“, fragte er leise.

      „Das, mein lieber Tom, ist ein Kobold.“

      Ein Kobold. Wenn man den Beschreibungen aus Harry Potter Glauben schenken konnte, waren Kobolde hässliche, langnasige Wesen, die Zauberergold bewachten. Das, was auf dem Labortisch lag, hatte damit nicht die geringste Ähnlichkeit. Es sah eher aus wie eine Mischung aus Fledermaus und Koboldmaki. Ein sehr kleiner Koboldmaki mit getrocknetem Blut an der Schnauze. Toms Herz wurde schwer vor Mitgefühl. Was mochte mit ihm geschehen sein?

      „Ein Waldkobold, um genau zu sein.“

      „Wo hast du ihn gefunden?“

      „Drüben am Waldrand, genau hinter Oswald Griselbarts Hecke. Ich nehme an, dass es sein Versteck verließ, um Nahrung zu suchen und angegriffen wurde, als es durch die Hecke schlüpfte.“

      Oswald Griselbart war ihr direkter Nachbar und sogar noch verschrobener als Reginald Winter, wenn das überhaupt möglich war. Zumindest war er der einzige Mensch, den Tom kannte, der an Heiligabend mit seinem Teleskop die Uranusmonde beobachtete, anstatt mit Freunden und Familie vor dem heimischen Kamin zu sitzen. Außerdem hatte Tom noch nie einen Fuß in sein Haus setzen dürfen, geschweige denn in seinen Garten, und als er sich bei anderen Dorfbewohnern danach erkundigte, sagten sie ihm, dass Griselbart dies niemand anderem als sich selbst gestattete.

      „Wie ist er gestorben?“, fragte Tom. Er konnte den Blick kaum von dem toten Geschöpf abwenden und spürte gleichzeitig Bedauern und Faszination in sich aufwallen.

      „Durch einen Zaubererfluch.“

      „Woher willst du das wissen?“

      „Er weist keine äußerlichen Verletzungen auf, keine Bisswunden, keine Quetschungen, keine Hämatome. Medizinisch gesehen ist dieses Wesen kerngesund.“

      Tom überlegte. „Was willst du jetzt tun?“

      „Ich sage Professor Specht von der Hirlingsheimer Uni Bescheid und dann soll er mit mir zusammen die Existenz dieser fremden Wesen attestieren. Stell dir vor, welch einen Aufschrei das in der ganzen Nation auslösen wird! Mein Name in allen Zeitungen! Aber ich muss mich beeilen, ehe er ins Bett geht.“

      Tom schlüpfte mit klopfendem Herzen nach oben in sein Zimmer. Dort ging er zum einzigen vorhandenen Fenster, das Ausblick auf das benachbarte Haus bot und kniete sich hin. Die Fensterscheibe reflektierte sein Spiegelbild und zeigte einen sehr kleinen schmächtigen Jungen mit blassem Gesicht und schwarzem Haar. Wie immer lagen Schatten unter seinen Augen, was ihm einen kränklichen Ausdruck verlieh. Er hatte die regelmäßigen Züge seiner Mutter geerbt, schmale Wangenknochen, große dunkelblaue Augen und ein Mund, der für einen Jungen fast ein wenig zu weich war. Das zusammen mit seiner ruhigen, zurückhaltenden Art verlieh ihm einige Vorteile beim weiblichen älteren Geschlecht, eine Wirkung, derer er sich noch nicht bewusst war. Oft wurde gemunkelt, dass der Winterjunge nicht ganz gesund sein konnte und man erinnerte sich, dass auch seine Mutter Isabella diesen Eindruck gemacht hatte.

      Tom wusste nichts von diesen Spekulationen, da sein Vater ihn gekonnt davor abschirmte, so gut es ging. Außerdem war seit seinem Traum ein seltsames Feuer in seine Augen getreten, er sah lebendiger und begeisterungsfähiger aus, und könnten die Dorfbewohner es in diesem Moment sehen, wären sie stumm vor Erstaunen.

      Eingehend studierte er das benachbarte Haus. In dem zur Zeit des frühen Historismus erbauten Gebäude (darauf deuteten die Dachtürmchen und Bogenfenster der vielen Zimmer hin), wohnte Oswald Griselbart, seines Zeichens Astrophysiker im Ruhestand und ehemaliger Huskyzüchter. Es war der teuerste Bau in ganz Glöckerlstadt, noch teurer sogar als die Kirche. Viele fragten sich, warum Griselbart es nicht verkaufte und sich eine moderne Villa in einer Großstadt aneignete, wie sie es getan hätten. Der Besitzer jedoch wollte nichts davon wissen.

      „Glöckerlstadt ist keine Stadt, die man leichtfertig aufgibt“, sagte der alte Mann dann und ein merkwürdiges Funkeln trat in seine Augen. Was genau er damit meinte, wusste niemand.

      Immer, wenn Tom in letzter Zeit den zum Haus gehörigen Weg und die Eingangstür beobachtete, wurde er Zeuge von ungewöhnlichen Ereignissen. Er sah viele Leute, die, in lange Umhänge gehüllt, den Kiesweg entlang schritten, manchmal allein, manchmal in kleinen Grüppchen. Der Hausherr öffnete, ohne dass er in den Lichtschein der Lampe trat, und ließ sie hinein. Dann konnte Tom stundenlang warten, oft bis weit nach Mitternacht, aber keiner der Gäste kam wieder zum Vorschein, was nahelegte, dass sie einen anderen Ausgang nahmen. Tom tippte auf den Wald hinter Griselbarts Haus, der, wenn man ihn durchquerte, ins nächstgelegene Örtchen Bruckwalde führte. Dort musste es irgendetwas geben, das das Interesse der zauberhaften Wesen weckte. Auch die Tatsache, dass sein Vater den Kobold eben am Rand dieses Waldes gefunden hatte, verstärkte seinen Verdacht. Natürlich war es kein Verbrechen, abends Gäste zu empfangen – aber diesen Gästen haftete etwas Merkwürdiges an. Manche waren nur halb so groß wie normale Menschen, andere von überdurchschnittlich kräftiger Statur mit Haaren, die fast bis zum Boden reichten, wieder andere schienen mit den

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