Tom Winter und der weiße Hirsch. Nicole Wagner
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Er verabschiedete sich von Peer und Charlie und lauschte, wie ihre Schritte in der Dunkelheit verklangen. Die Gedanken in seinem Kopf wirbelten umher wie Laub in einer frischen Brise und noch immer war das blaue Feuer in seinen Augen, das sein leichtes Humpeln wieder wettmachte. Er hatte eine Stimme gehört, irgendetwas oder irgendjemand hatte zu ihm gesprochen und auch Griselbart hatte zugegeben, dass seine Angelegenheiten „eine Nummer zu groß für ihn waren.“ Tom schnaubte. Das würde sich noch herausstellen.
Der Junge überlegte gerade, wie er Reginald die blauen Flecke und Schrammen erklären sollte, als ihm etwas auffiel. Die Haustür zum Bernsteinweg sechs stand sperrangelweit offen, und, was noch viel ungewöhnlicher war, ebenfalls die Tür, die zum Keller führte. Es konnte schon mal vorkommen, dass Reginald in der Eile vergaß, die Haustür zu schließen, aber niemals die zu seinem Forschungslabor. Es gab keinen Zweifel: Seinem Vater musste etwas geschehen sein! Zwei Stufen auf einmal nehmend rannte Tom die Treppe hinunter. Unten angekommen sah er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt; Reginald lag auf dem Boden, die Augen geschlossen, und rührte sich nicht. Im Hintergrund piepten mehrere Apparaturen, nichts ahnend, dass ihr Besitzer der Ohnmacht anheimgefallen war. Tom stürzte an seine Seite und rüttelte an seiner Schulter.
„Dad! Papa, wach auf!“
Es bedurfte nur ein wenig Schütteln, da schlug Reginald die Augen auf. Orientierungslos blickte er um sich und fasste sich mit der Hand an den Kopf, der offenbar wehtat. Er stöhnte. Da bemerkte Tom etwas.
„Dad, der Kobold! Er ist weg!“ Dort, wo vor zwei Stunden das fantastische Wesen gelegen hatte, war nichts mehr zu sehen, die graue Arbeitsfläche des Tisches war leer. Zu seiner Überraschung lächelte sein Vater und sah plötzlich sehr erschöpft aus. „Die anderen, sie müssen ihn mitgenommen haben“, murmelte er, während er sich vorsichtig aufsetzte.
„Wer? Andere Kobolde? Und dich haben sie überwältigt?“
„Mit Magie außer Gefecht gesetzt, würde ich sagen.“
„Kobolde beherrschen auch Magie?“
„Oh ja. Es hat etwas mit diesem glühenden Licht direkt über dem Herzen zu tun. Ich war gerade dabei, das Geheimnis zu entdecken, ich wollte den Kobold nämlich sezieren.“
Tom machte ein Geräusch, das seinen ganzen Ekel und Unglauben ausdrückte. „Dad, wenn die Kobolde das mitbekommen haben, hast du Glück, dass du noch am Leben bist.“
Reginald stützte sich auf seinem Sohn ab, um auf die Füße zu kommen. Er schwankte bedrohlich. „Du hast Recht. Ich glaube, nur die Tatsache, dass ich öfters Nahrung und Arzneimittel im Wald auslege, hat mir das Leben gerettet.“
„Aber sie wissen jetzt, dass du und auch ich das Geheimnis kennen, nämlich, dass sie existieren. Was, wenn sie uns jetzt aus dem Weg räumen wollen?“
Reginald lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht. Nur weil ich jetzt weiß, dass sie existieren, heißt das nicht, dass ich nochmal einen finden werde. Dieser wurde durch Magie getötet, wie oft kommt das schon vor?“
Tom zuckte die Schultern, ihm war mulmig zumute. Noch immer schwirrte sein Kopf von all den kuriosen Ereignissen und er wusste nicht, worüber er zuerst nachdenken sollte.
„Aber Tom!“, sagte sein Vater, während sie gemeinsam die Treppen hinaufstiegen. „Was ist mit deinem Gesicht passiert? Es ist ja ganz grün und blau!“
„Ich bin gestürzt“, murmelte Tom und wandte das Gesicht ab. Er wollte den enttäuschten Blick ins Reginalds Augen nicht sehen, der immer traurig wurde, wenn es um die schwache Gesundheit seines Sohnes ging. Natürlich ließ er ihn in dem Glauben, dass er umgeknickt oder eine Treppe hinunter gefallen war. Griselbart würde ihm vielleicht so schnell nicht begegnen, sodass der Moment der Wahrheit noch ein wenig hinausgezögert werden konnte.
Zum Glück fragte Reginald nicht weiter nach und war damit zufrieden, dass Tom ihn auf einem Stuhl in der Küche ablud. Er seufzte. „Ich werde wohl oder übel Professor Specht Bescheid geben müssen, dass sich mein Jahrhundertfund in Luft aufgelöst hat. Er wird nicht erfreut sein.“
Griselbarts Villa
Charlie versuchte während des gesamten nächsten Vormittags, Peer und Tom ihr Vorhaben auszureden. Sie tauschte vorsätzlich ihren Sitzplatz mit Paulina, sodass sie neben Tom saß und ihm ihre Warnungen ins Ohr flüstern konnte. Das sorgte für einigen Wirbel in der Klasse und die Mädchen, die eine Reihe vor ihnen saßen, drehten sich nach ihnen um und kicherten. Ihrer Ansicht nach war es höchst erstaunlich, dass ausgerechnet die unnahbare Charlie Rottint Interesse am Winterjungen zeigte, der wieder einmal aussah, als hätte er die ganze Nacht in einer Tiefkühltruhe verbracht mit dem papierweißen Gesicht und den dunklen Augenringen.
Aber Charlie warf ihre langen Haare zurück und ignorierte sie.
Zu Tom sagte sie: „Ich wäre mir gar nicht so sicher, ob das überhaupt ein Zauberwesen war, das den Ball zerstört hat. Vielleicht hat Griselbart mit einem Messer hineingestochen, weil er dich in sein Haus locken will.“
„Unsinn“, zischte Tom zurück, denn die erste Stunde (Erdkunde) hatte bereits angefangen. „Er setzt ja gerade alles daran, dass ich nicht hineinkomme, außerdem war das Loch scharfkantig und ein Messer würde glatte Schnitte ergeben.“
„Warum bist du so überhaupt scharf drauf, deinen Hals zu riskieren? Was hast du davon, wenn er seinen Monsterhund auf dich los hetzt oder was auch immer du da drin gesehen hast? Ich bezweifle, dass du dich dagegen verteidigen kannst!“
Natürlich hatte sie Recht, aber das war nicht, worum es Tom ging. Während alle ihre Atlanten aufschlugen, schüttelte er den Kopf und flüsterte: „Ich möchte es einfach wissen, vielleicht plant er ja auch einen Monsterangriff auf die ganze Menschheit und es ist meine Pflicht, alle zu warnen!“
„Monsterangriff! Mach dich nicht lächerlich, Griselbart gehört zu den Guten.“
„Was soll das denn jetzt wieder heißen?“
Charlie machte den Mund auf, um zu antworten, aber Peer, der auf Toms anderer Seite saß, kam ihr zuvor: „Du kannst ihn nicht umstimmen, Charlie, und mich auch nicht. Die ganze Sache ist einfach zu … wichtig, als dass wir rein gar nichts unternehmen könnten.“
„Zu wichtig? Was könnte wichtiger sein als die Landflucht in Südafrika?“ Herr Aßbeck, der Erdkundelehrer, war hinter ihnen aufgetaucht und klopfte ungeduldig auf den aufgeschlagenen Atlas.
„Tom, könntest du bitte mal das Schaubild erklären?“
„Ähm … “
Ein paar Schüler lachten, als er erst noch das richtige Diagramm suchen musste und dann sehr stockend mit der Interpretation begann.
„Vielleicht sollte Charlotte sich in der nächsten Stunde wieder auf ihren ursprünglichen Platz setzen, wenn sie euch zwei so ablenkt.“ Herr Aßbeck ging nach vorn zum Pult und hinter seinem Rücken drehten sich einige Schüler um und grinsten.
Tom schaute mit glühendem Nacken zur Tafel und versuchte, die Blicke zu ignorieren. Glücklicherweise ließ Charlie es für den Rest der Stunde bleiben, ihm Warnungen einzuflüstern.
Gegen Mitternacht huschte Tom die Treppen hinab, Taschenlampe und Rucksack in der einen, Klappmesser in der anderen