Tom Winter und der weiße Hirsch. Nicole Wagner
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Charlie machte den Mund auf und schloss ihn dann wieder. Es war klar, dass sie Ja sagen wollte.
„Tut mir leid, das mach ich nicht, ich glaub es wär am besten, wenn du mich einfach in Ruhe lässt, Charlie.“
Eine Hand zwischen seinen Schulterblättern brachte ihn zum Verstummen, Herr Tissarek, der Deutschlehrer, war von hinten auf sie zu getreten und schob sie vor sich her ins Klassenzimmer. „So jung und schon Beziehungsstress“, sagte er, dass die ganze Klasse es hören könnte. „So gern ich euren Problemchen lauschen möchte, empfehle ich euch, die Unterhaltung nach der Stunde fortzusetzen. Gib nicht gleich auf, Charlotte, er wird seinen Groll schon hinunterschlucken.“
Die ganze Klasse, Peer ausgenommen, lachte. Tom ging rauchend vor Zorn zu seinem Platz und schwor sich, von jetzt an nie wieder ein Wort mit Charlie Rottint zu wechseln.
Die nächsten Tage verliefen ereignislos, Tom gab vor, nicht zu wissen, dass das Haus nebenan existierte, sein Vater machte keine weiteren Koboldfunde und Charlie hatte nach mehreren fruchtlosen Versuchen, ihn versöhnlich zu stimmen, aufgegeben. Peer hatte ihr größtenteils verziehen, sie betrachteten jetzt wieder Schmetterlinge unter dem Mikroskop, aber Tom wollte nichts davon wissen.
„Die töten sich gegenseitig, Peer, und wer weiß, ob du Charlie überhaupt trauen kannst. Vielleicht soll sie für ihre Vereinigung Menschen auskundschaften und du bist der erste, der dran glauben muss. Hat sie dir schon irgendwas Neues erzählt?“
Peer verneinte. Und solange das so blieb, hielt Tom an seinem Standpunkt fest.
Nur in seinen Träumen holte ihn das Erlebte wieder ein. Meist wusste er am nächsten Morgen nicht mehr, worum es ging, nicht so in dieser Nacht.
Tom wanderte eine einsame Straße entlang. Es war die Fußgängerzone der nächst größeren Stadt Waldkirchen am Wesen, wo er bereits das ein oder andere Mal gewesen war. Außer ihm war keine Menschenseele unterwegs und Tom betrachtete interessiert die Schaufensterauslagen. Bei einem Antiquitätengeschäft, das kleine Modelle vom Mond und von der Sonne anbot, blieb er stehen und verfolgte mit dem Blick die Kurven und filigranen Details auf den silbernen und goldenen Figuren.
Da bemerkte er die Gegenwart eines weiteren Wesens und er schaute auf. Vom Ende der Straße kam ein silbernes Licht auf ihn zu und sein Herz machte einen Hüpfer. Er hatte ihn sofort erkannt, es war der Hirsch, der ihn Nacht für Nacht in seinen Träumen besuchte. Tom lächelte zaghaft. Die braunen Augen schauten ihn mit der für sie typischen Ruhe an und schienen wie immer tiefere Geheimnisse zu bergen.
Tom erinnerte sich, wie er vor den magischen Tieren und auch vor dem Hirsch geflohen war und fühlte das schlechte Gewissen in sich aufsteigen. Hier in diesem Traum kam ihm sein Verhalten plötzlich feige und falsch vor. Was war geschehen, dass er das Heil in der Flucht gesucht hatte? Er konnte sich nicht erinnern.
„Du verschließt dein Herz vor der Magie“, sagte der Hirsch und es klang wie ein Anklage.
„Ich … “ Tom wollte erklären, aber ihm fiel kein einziger Grund ein. Mit großen dunkelblauen Augen schaute er den Hirsch an.
„Bald wird es zu spät sein. Die Schatten werden länger und die Sterne stehen nicht mehr lange in einer günstigen Konstellation.“ Der Hirsch blickte über die Schulter und Tom war, als sähe er einen dunklen Schatten, der sich vom anderen Ende der Fußgängerzone her auf sie zu bewegte. Die Ohren des Hirsches flackerten nervös.
Tom machte einen zögerlichen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. Er hatte das Gefühl, wenn er ihn nur einmal berühren könnte, würde sich der Nebel in seinem Kopf lösen und er könnte besser verstehen.
Aber der Hirsch wich zurück und seine Hufe klackerten auf dem Asphalt. Um sie herum wurde es dunkler.
„Verschließe dein Herz nicht länger, junger Freund“, raunte der Hirsch jetzt eindringlicher. „Lass dich nicht von Ängsten blenden, sondern sei mutig! Die Schatten kommen.“
Tatsächlich umfing die Dunkelheit den Hirsch mit einer solchen Gnadenlosigkeit, dass Tom aufschrie. Kurz noch kämpfte das silberne Leuchten mit den Schatten, versuchte sich herauszuwinden, aber dann ging es aus, wie eine Kerzenflamme, die der Wind ausgeblasen hatte.
Tom stieß einen weiteren Schrei aus und wachte auf.
Sondern sei mutig! Er konnte den Satz nicht aus seinen Gedanken verbannen. Er drehte sich auf die Seite und knüllte das Kissen zusammen. Er wollte mutig sein.
Zwei Tage waren seit dem Traum vergangen. Am Donnerstagabend saß Tom in seinem Bett und wiederholte ein Kapitel aus seinem Matheschulbuch; es ging um Winkelsummen im Dreieck. Gegen halb zehn, als er sich überlegte, früher schlafen zu gehen, bemerkte er, wie es in seinem Zimmer schlagartig kälter wurde. Mitte Juli war er es gewöhnt, nur im T-Shirt herumzulaufen, aber jetzt überkam ihn eine Gänsehaut. Er packte seine Schulsachen weg und zog eine Jacke über. Trotzdem wurde er den Gedanken nicht los, dass irgendetwas im Gange war. Er warf einen argwöhnischen Blick zum Fenster. Konnte es wieder mit Griselbarts Haus zu tun haben?
Schließlich, als er die Spannung nicht mehr aushielt, stand er auf und schaute, was sich an seiner Pforte abspielte. Vor dem Fenster ging er in die Knie und lugte nur eine Handbreit über den Sims. Wie zu erwarten hatte der Nachbar erneut Besuch und wie gewöhnlich war der Gast eindeutig nicht menschlicher Natur. Das schwarze, in einen Umhang gehüllte Wesen, schwebte ein paar Handbreit über dem Boden. Anders als die sonstigen Besucher schien es seine Unnatürlichkeit nicht verbergen zu wollen und Tom wollte wetten, dass es auch unter seiner Kapuze kein vorgetäuschtes menschliches Aussehen angenommen hatte. Auf dem Rücken hatte es einen Buckel, der sich hin und wieder verschob und dabei den Mantel verrutschte als wäre er ein eigenständiges Körperteil, das sich frei bewegen ließ. Als es seinen Kopf drehte, um nach links und rechts zu sehen, ging Tom unwillkürlich weiter in die Knie; er wollte in seiner Spähposition nicht entdeckt werden. Beim Anblick dieser Kreatur fühlte er zum ersten Mal einen Anflug von Angst, anders als beim Elf oder beim Kobold, an denen er durchaus Gefallen gefunden hatte, bis sie angefangen hatten, einander umzubringen. Das gespenstähnliche Wesen auf dem Weg klopfte nicht und klingelte auch nicht, soweit es für Tom ersichtlich war. Dennoch öffnete sich die Tür zu Griselbarts Villa einen Spaltbreit, denn Licht fiel aus dem Inneren des Hauses auf die Veranda. Dann geschah alles ganz schnell: das fliegende Wesen fegte mit unnatürlicher Geschwindigkeit und einem schrillen Kreischen, das Tom die Haare zu Berge stehen ließ, durch die offene Tür; Krachen und Schreie ertönten, dann kamen weder Griselbart noch der Geist erneut zum Vorschein. Tom schluckte. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er die Vermutung, Griselbart würde angegriffen. Aber wenn er sich daran erinnerte, wie er mit dem Kobold umgesprungen war, hielt sich sein Mitgefühl in Grenzen. Weitere Kampfgeräusche drangen aus dem benachbarten Haus, das Rücken von schweren Möbeln, unterdrückte Schreie und Grunzer, dazu immer wieder die schrillen hohen Laute, die die Kreatur von sich gab. Hörte es denn niemand? Warum halfen Griselbart nicht die vielen Wesen, die er seine Freunde nannte, zum Beispiel der Werwolf? Aber Tom wusste instinktiv, dass Griselbart dem Ding ganz allein gegenüberstand. Er biss sich auf die Lippen. Sollte er helfen? Ein Laut erregte seine Aufmerksamkeit. Neben den Kampfgeräuschen gab es da noch ein anderes, das nicht recht passen wollte; es war das Winseln und Schaben eines Hundes, der mit den Krallen am Boden wetzte. Es schien aus dem oberen Stockwerk zu kommen. Tom wusste, dass Griselbart dem Angriff nicht lange standhalten konnte. Er vergaß seine Vorsicht und rannte aus dem Zimmer. Draußen schlug ihm kalte Nachtluft