Verfluchtes Erbe Gesamtausgabe. T.D. Amrein
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Читать онлайн книгу Verfluchtes Erbe Gesamtausgabe - T.D. Amrein страница 35
Merz fühlte sich extrem düpiert.
„Ja! Es war schlimm! Aber deshalb fehlt es mir nicht im Kopf!“
„Aber Erich! Es geht doch nicht darum, ob Ihnen etwas fehlt. Unsere Leute, die zum Beispiel Unfallopfer bergen müssen, gehen immer zur Therapie. Sonst kann man das nicht verarbeiten. Das ist ganz normal.
Ich wollte Ihnen auf keinen Fall zu nahe treten. Falls Sie in Schwierigkeiten geraten, überlegen Sie sich das einfach noch einmal. Diese Leute können Ihnen wirklich helfen. Und die gibt es auch in der Schweiz.“
Merz blieb ungehalten. Mit Seelenklempnern wollte er absolut nichts zu tun haben. Die sind doch alle nur zu faul, um etwas Richtiges zu arbeiten. So lautete seine Ansicht. Aber das er behielt für sich.
Er war so gelöst und voller Freude gekommen. Der Kommissar sollte über ihn staunen. Ihn bewundern.
Aber stattdessen wollte ihn dieser Blödmann zum Psychiater schicken. Merz wollte nur noch weg.
Sein Selbstvertrauen war jetzt nachhaltig zerstört. Er fühlte sich grottenschlecht. Dieser Idiot, dachte er. Dieser unglaublich arrogante Scheißkerl!
„Also, dann gehe ich, Herr Kommissar“, sagte Merz in dunklem Ton.
Er würde ihn nie mehr mit seinem Vornamen ansprechen. „Sie brauchen mich ja offenbar jetzt nicht mehr!“
Reuter wurde die Sache äußerst peinlich. Er wollte doch wirklich nicht…
Aber da ließ sich im Moment nichts mehr Reparieren, das fühlte Reuter. Die typische Reaktion einer Person mit starken Selbstzweifeln. Ganz klar.
Aber dass Erich Merz so empfindlich sein könnte? Das hatte er wirklich nicht erwartet.
„Ich danke Ihnen für alles!“, sagte Reuter mit ernster Stimme. „Sie haben wahrhaftig den entscheidenden Hinweis gebracht.“ Wenigstens ein Stück weit, versuchte er, ihn wieder aufzubauen. Merz tat ihm aufrichtig leid.
Er reichte ihm die Hand, die Merz nur noch flüchtig drückte. „Auf Wiedersehen!“, wünschte Reuter.
Aber Merz brummte nur noch undeutlich, bevor er das Büro verließ. Die Tür schloss er mit einem kräftigen Fußtritt.
***
Draußen suchte Merz als erstes ein Restaurant auf. Was nun, ging ihm durch den Kopf. Schlagartig war ihm jede Lust vergangen.
Er hatte sich auf eine spannende Jagd gefreut. Er wollte große Erfolge feiern, sich fast unbesiegbar fühlen. Der unbeirrbare Journalist sein, vor dem die Profiteure und Kriegsgewinnler zittern sollten. Und jetzt: Er wurde abgewiesen wie ein kleiner, dummer Junge.
Undankbar ist die Welt. Das wusste er bereits. Jedoch steigerte er sich gern in tiefstes Selbstmitleid hinein, wenn er sich verletzt fühlte.
Am liebsten wollte er in diesem Zustand irgendetwas gegen eine Wand werfen. Aber im Moment hatte er nichts Passendes zur Hand.
Später, als er am Main entlang spazierte, warf er einen faustgroßen Stein nach einem Schwan, den er auch traf. Der Vogel schrie schrecklich laut auf, sackte zusammen und trieb danach nur noch als lebloses, weißes Federbündel im Fluss.
Das brachte Merz wieder zur Besinnung. Was hatte ihm der Vogel getan? Der konnte doch nichts dafür. Und er hatte ihn umgebracht, nur um sich abzureagieren?
Unter Umständen hatte der Schwan Junge, die nun elend verhungern mussten?
Merz stand kurz davor, selbst in den Fluss zu springen. Aber er war ein zu guter Schwimmer um an dieser ruhigen Stelle zu ertrinken.
Er schämte sich grenzenlos. „Was bist du nur für ein nutzloser Dummkopf!“, sagte er laut zu sich. „Reuter hat doch Recht! Ich bin reif für die Klapsmühle!“
Er schlich sich ein Hotel, wo er sich vor allem vergraben konnte. In diesem Zustand nach Hause zu fliegen, kam auf keinen Fall in Frage.
6. Kapitel
Willhelm Dornbach saß im Zug nach Osnabrück. Auf dem Weg zu Hartmut Schulz, einem alten Kameraden.
Von ihm hatte Dornbach damals kurz vor Kriegsende die ersten falschen Pässe gekauft. Nur als Vorsichtsmaßnahme, für eine unerwartete, plötzlich notwendige Flucht. Schulz lieferte auch später zuverlässig weiter, wenn die Pässe „abgelaufen“ waren. Allerdings nur, wenn man persönlich bei ihm erschien.
Schulz war nur wenig älter als Dornbach. Deshalb konnte er davon ausgehen, auch ihn noch lebendig anzutreffen.
Zusammen dürften sie damals zu den Jüngsten gehört haben, die es im 3. Reich noch zu selbständig tätigen Agenten gebracht hatten.
Hartmut hatte stets betont, dass ihm nichts passieren würde. Er behauptete, nach dem Krieg auch einige Zeit für die Besatzer gearbeitet zu haben.
Dornbach hielt das für Unfug. Aber egal. Hauptsache, er erhielt von ihm die Dokumente, die er brauchte.
Sie waren natürlich längst nicht die Einzigen gewesen, die im Land geblieben waren. Jedoch hatte die Zeit, langsam aber stetig, die Mitglieder ihrer verschworenen Gemeinschaft reduziert.
Im direkten Auftrag des Reichssicherheitshauptamtes beaufsichtigten sie, sogenannte Lagertransporte. Getarnt als normale Reichsbahnangestellte.
Im Umkreis von Novak und Eichmann, ihren Vorgesetzten, wurde niemals in der Öffentlichkeit über die Arbeit gesprochen. Und die ständige Geheimhaltung hatte es mit sich gebracht, dass ihre Klarnamen, Dornbach und Schulz, nirgends auftauchten.
Auf jeden Fall hatte sich bis dahin, niemand um ihre Vergangenheit gekümmert. Dornbach blieb jedoch, im Gegensatz zu Schulz, wachsam. Denn es gab immer noch Zeugen, die ihn verraten konnten. Juden, die die Lager überlebt hatten.
Dornbach bekleidete keine öffentlichen Ämter oder übernahm irgendeinen Vorsitz in Vereinen. Selbst wenn er eingeladen wurde, ging er nur selten hin. Zu groß die Angst, er könnte von jemandem erkannt werden.
Von den vielen, die er in die Hölle begleitet hatte, dürften die meisten bereits nach kurzer Zeit tot gewesen sein. Aber zu Ende des Krieges wurden doch einige befreit. Vor denen musste er sich zeitlebens in Acht nehmen. Er wollte gerne in der Heimat bleiben und nahm es in Kauf, sich nie ganz frei bewegen zu können.
Außerdem hatte er stets sorgfältig darauf geachtet, dass keine Fotos von ihm existierten.
***
Für diese Reise hatte er eine doppelte Postkarte vorbereitet, wie sie unter Kameraden immer noch üblich war. Mit einem unverfänglichen Gruß auf der Rückseite. Dazwischen, im verklebten Teil, die eigentliche Nachricht. „Hartmut, ich sitze heute um zwölf auf der Bank im Park. Triff mich, wenn du kannst.“
Um welchen Park es sich handelte, wusste der Adressat natürlich. Dornbach würde sich an mehreren Tagen um diese Zeit dort aufhalten, falls Schulz nicht kommen konnte.