Brief an Marianne. Martin Winterle
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Er war also 45, somit fünf Jahre älter als sie. Etwas untersetzt, stämmig aber nicht dick, bis auf einen leichten Bauchansatz vielleicht. Hatte echte Fußballerwaden, kräftige Arme und Hände. Darauf stand sie, gab sie zu. Ihr Typ konnte Haare nicht nur auf der Brust haben. Das machte sie an. Hatte ihr bei Männern immer schon gut gefallen. Seine graublonden Haare trug er kurz, dazu einen gleichfarbigen, dichten Oberlippenbart. Schöne, dunkle Augen, deren genaue Farbnuance sie, so sehr sie sich anstrengte, nicht wirklich genau beschreiben konnte. Am ehesten kam noch dunkelgraubraun hin. Was sie an seiner Optik störend fand, sein zu kurz geratene Hals, einem Stiernacken nicht ganz unähnlich.
Horst konnte sehr überzeugend reden, ziemlich alle Register ziehen, von einschmeichelnd(ihr gegenüber…), bis brutal(wenn ihm etwas nicht ins berufliche Konzept passte…). War ein geduldiger Zuhörer der spontan direkte Fragen stellte. Interessiert hinterfragte, vollkommen auf sie einging. Konnte aber auch sehr herrisch und aufbrausend reagieren. Nicht sie betreffend, aber es war ihr in seinen Erzählungen aufgefallen.
Er war geschieden, seine Ex hieß Ruth, hatte einen Sohn mit ihr, soviel von sich aus erzählt. Nach seiner aktuellen Lebenssituation zu fragen, hatte sie sich, bis heute nicht getraut. Kam ihr gerade in den Sinn. Sie verdrängte diese Frage, wohl aus Angst vor der Antwort…
Heute Abend war um 19 Uhr das erste Treffen der Italienisch Kursteilnehmer im WIFI.
Sie kam nicht vor 23 Uhr nach Hause. Der Linienbus würde erst zwanzig Minuten nach Kursende, dafür aber fast vor dem Schulungsgebäude, abfahren. Zwischen Büroschluss, heute wollte sie bis 18 Uhr in der Firma bleiben, und Kursbeginn würde sie dann eine Stunde freie Zeit haben. Vielleicht hatte Horst in der Nähe einen Termin und sie könnten sich kurz sehen. Sie schrieb diese Frage mittags in ihr SMS an ihn, gleich zu Beginn, als erstes. Leider wäre er heute im Oberland bei Kunden, schrieb er zurück, was ihm sehr leid tue. Er vermisse sie total, würde sich über ein Mail von ihr freuen, auch wenn es erst spät abends wäre…
Eva hatte heute zeitgleich Mittagspause mit ihr. Dank gemeinsamen Handy-Spartarif kostete das ausführliche Quatschen so gut wie nichts. Marianne wollte sich thematisch auf den heute beginnenden Italienischkurs und auf was-unternehmen-wir-beide-am-Wochenende einschießen. Eva interessierte nur, wie es gestern mit Mariannes neuer Eroberung, diesem Horst war.
Marianne war zu diesem Thema bisher ja mehr als verschlossen, ihr gegenüber gewesen. Eva hatte an ihrer vibrierenden Stimme sofort erkannt, dass es da eine zu hebende, sicher hoch interessante Leiche im Keller gab. Leichen heben, Eva`s Lieblingsbeschäftigung. Dafür ließ sie sogar ihre Tasse Tee, Marke Eigenkomposition kalt werden und ein Schmacht-SMS von Mehmet, ihrem Fitnesstrainer unbeantwortet.
Also doch Funkenflug, nein bereits Flächenbrand, aber hallo - noch besser, noch viel interessanter – es gab Großalarm!
Eva hatte gewaltig die Neugierde gepackt. Bohrte und drängelte Marianne, mit um zwei Oktaven höherer Stimmlage. Um fünf soll sich Marianne aus dem Büro schleichen, sie würde mit dem Auto vor der Türe stehen. Fast zwei Stunden Zeit zum ausgiebigen Ausschlachten des gestrigen Nachmittages zur Verfügung haben. Da müssten selbst die Beistriche, in der erwarteten, haargenauen Schilderung, Platz finden. Seufzend gab sich Marianne geschlagen, wusste dass sie nicht auskam…
Eva nippte an ihrem Grapefruit-Orangenmix, ließ den Eiswürfel wieder ins Glas zurück flutschen. Zog ihre elendslangen Beine unter dem kleinen, runden Tisch hervor, wischte eine winzige Undefinierbarkeit von ihrem extravagant hohen, hellgrünen Pumps. Marianne hatte gerade die optische Beschreibung ihrer neuen Liebe beendet. Unterbrochen durch jede Menge Zwischenfragen, hatten ihre Schilderungen über eine halbe Stunde gedauert.
>Da hat dir sein Seismograph aber ganz gehörig etwas geboten. Typen mit Stiernacken haben ja sonst mit diesem Tier auch noch was gemeinsam. Das erinnert mich an diesen Hans, den Zillertaler, den ich dann kaum wieder losgeworden bin. Nur weil ich mir auch einmal einen Zuchtstier angelacht habe. Kannst du dich erinnern? <
Marianne konnte(vage…).
> Komm, spann mich nicht auf die Folter, wie lief´s denn ab, erzähl schon. Und spar nicht wieder mit den Details. Du weißt, ich hasse es, dir immer die Würmer einzeln aus der Nase zu ziehen. <
Marianne brauchte etwas Anlaufzeit, auch der Intimfreundin gegenüber. Eva hackte dort nach, fragte da hinterher, hatte nach einer weiteren halben Stunde eine filmreife Wiedergabe. Angefangen von Mariannes Abholung vor ihrem Büro, bis zum Fallen des Vorhanges um 20 Uhr. Natürlich freute sie sich mit Marianne, freute sich ehrlich für sie und mit ihr. Gönnte ihr jede glückliche Sekunde aus ehrlichem Herzen, nur…
Eva nahm Marianne, über den Tisch hinweg in den Arm und drückte sie emotional wie selten.
>Mädel super, echt. Du hast viel zulange weder Sex noch Zuneigung gehabt. Gönn´s dir ehrlich…was mich an der Geschichte irritiert…du…bist nicht ich…bei mir wäre so eine Story normal…aber. Sag, was weißt du den von den Lebensumständen dieses Horsts? Ist der wieder verheiratet? Hat er noch weitere Kinder? Zeig mir mal die Visitenkarte. <
Bat sie Marianne.
Marianne kramte sie aus ihrer Geldbörse. Eva studierte sie genau, kopierte sie in ihr Gedächtnis.
>Hast du ihn schon einmal gegoogelt? <
Interessierter Augenaufschlag von gegenüber.
>Nein, wozu sollte das gut sein, ich kann ihn ja fragen, wenn ich was wissen will? >
Antwortete Marianne, leicht verlegen.
>Ach nur so, aus Interesse halt. Mich interessiert immer was der Google zu berichten hat. <
Eva hatte seinen Namen längst in ihrer Hinterkopfdatei gespeichert, das wusste Marianne. Eva besaß ein phänomenales Namens - und Zahlengedächtnis, konnte jedes Detail behalten. Marianne merkte sich Gesichter und Begebenheiten leichter als Zahlen und Nahmen.
Für Samstag verabredeten die Freundinnen eine gemeinsame Putzparty in Eva´s verstreuten Räumlichkeiten mit anschließenden Pasta asciutta kochen. Eva hatte eine neue Sorte von Bionudeln aus dem Internet bestellt, diese mussten unbedingt getestet werden, waren ja teuer genug gewesen…
Der Italienischkurs, für längere Zeit nun Mariannes Montag- und Donnerstagabendprogramm, war ausgebucht. Eva hatte sie pünktlich, fünf Minuten vor sieben, vor der Eingangstüre abgesetzt. Die fünfundzwanzig Teilnehmer, bis auf drei männliche Wesen, ausnahmslos Damen. Marianne sah sich um. Es war kein, ihr bekanntes Gesicht unter den „Mitschülern“. Mit ihren Vierzig Jahren war sie, abgesehen von einer deutlich älteren, etwas zu geschönten Lady, genau genommen, die zweite Seniorin.
Darüber staunte sie ein wenig.