Ernteplanet. Rolf-Dieter Meier
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Das Wichtigste in meinem Zimmer, in dem ich mich mittlerweile am meisten aufhalte, ist der riesige Bildschirm an der westlichen Wand. Daran schließt sich an der nördlichen Wand die Tür zum Flur an sowie die besagte Kommode. Darüber ein Gemälde. Nichts besonderes, aber dekorativ. Über den Bildschirm, man kann auch sagen: das Kommunikationszentrum eines jeden Haushalts, bin ich mit der Welt außerhalb meiner vier Wände verbunden. Hierüber tätige ich meine Einkäufe, lade ich Literatur, Musik und Filme herunter und erhalte all die anderen Informationen, die ich benötige. Wirklich von Vorteil ist aber das programmierte Kochen. Entgegen allen Unkenrufen ist heute jede Fertigmahlzeit von höchster Qualität und könnte sich mit kulinarischen Kreationen eines 3-Sterne-Kochs messen. Nun, dies ist kein Wunder, sind diese Mahlzeiten doch von eben diesen 3-Sterne-Köchen komponiert und programmiert, die Zutaten von auserlesener Frische. So kann man, wenn man will, tagtäglich die unendliche Vielfalt der edelsten Küche genießen. Aber nicht nur abgehobene Kochkunst wird geboten, auch der altbackene Eintopf kann abgefordert werden, wenn es einem nach etwas Ursprünglichen gelüstet. Mich gelüstet es allerdings nicht mehr allzu sehr nach irgendetwas, was wohl mit meinem Alter zusammenhängen mag. Ich esse mittlerweile nur noch wie ein Spatz. Zumindest haben dies immer meine Eltern gesagt, wenn die von mir vertilgte Portion nicht ihren Erwartungen entsprach. Das war in der Regel dann der Fall, wenn es mir einfach gesagt, nicht schmeckte. Meine erste und letzte Äußerung dieser Art, ich stand gerade in der Mitte meines vierten Lebensjahres, hatte zur Folge, dass meine Mutter zuerst tödlich beleidigt und danach immer noch schlecht genug gelaunt war, um meinen Vater für den Rest des Tages darunter leiden zu lassen. Da ich meinen Vater mochte, vermied ich zukünftig solche Aussagen und erntete damit den Dank meines Vaters, was sich in späteren Jahren in Form eines heimlich zugesteckten zusätzlichen Taschengeldes auswirkte. Man muss aber dazu sagen, dass meine Mutter zwar eine sehr patente und liebenswerte Frau war, nur kochen konnte sie nicht. Dies wurde von ihr jedoch völlig ignoriert und so versuchte sie sich mit immer größerem Einsatz selbst an der Haute Cuisine. Von wirklich denkwürdigen Ausnahmen abgesehen, endeten diese Versuche zumeist in einem Desaster und damit tränenreich. Mein Vater und ich gaben unser Bestes, die Situation zu bereinigen, wobei oft genug eine ordentliche Lüge die beste Medizin darstellte, die von meiner Mutter äußerst dankbar geschluckt wurde. Unglücklicherweise versuchte sie auch unsere Gäste mit ihren Kochkünsten zu beglücken. Gottseidank wurden diese Versuche wegen der sichtlich geringen positiven Resonanz eingestellt, und stattdessen ein Cateringunternehmen beauftragt oder ein Restaurantbesuch vorgeschlagen. Ich gebe zu, dass ich meiner Mutter nicht so viel Einsicht zugetraut hatte. Diese regelmäßig auftretenden Ereignisse rund ums Essen schweißten zumindest in diesem Fall meinen Vater und mich zu einer lange anhaltenden Zweckgemeinschaft zusammen, deren Interesse es war, das Essen möglichst außerhalb der heimischen Küche einzunehmen. Mein Vater und ich waren dabei in der vorteilhaften Situation, uns zu diesem Zweck der Kantinen zu bedienen, die uns in unserem Arbeitsumfeld zur Verfügung standen. So gehörte der Arbeitgeber meines Vaters zu den Menschen, die daran glaubten, dass ein gutes Essen nicht nur das Betriebsklima, sondern auch noch die Motivation zu einer höheren Leistung befördern würde. Ob die durchaus erfolgreiche Karriere meines Vaters Folge des guten betrieblichen Essens war oder auf der Dankbarkeit beruhte, den heimischen Kochkünsten entronnen zu sein, konnte ich nie ergründen. Ich selbst nutzte zunächst die Möglichkeit der allgemeinen Schulspeisung, die zwar bekanntermaßen keine Offenbarung war, aber immer noch besser … Während der Studienzeit besuchte ich zunächst die Mensa, wobei sich fatalerweise das Essen dort nicht allzu sehr von dem Unterschied, was meine Mutter unter Kochen verstand! Dies war aber nur für kurze Zeit der Fall, da ich meine universitäre Ausbildung bald in einer anderen Stadt fortsetzte, die nicht nur über eine bessere Mensa, sondern auch über eine Vielzahl hübscher kleiner Lokale verfügte, die mit ihren Speisenangeboten die Geschmacksnerven durchaus verwöhnten.
Während also meine Lust am Essen in letzter Zeit nachgelassen hat, verstärkte sich doch die Lust, noch einmal etwas Außergewöhnliches zu probieren. Klein, aber fein. Und das alles quasi auf Knopfdruck, das Kommunikationszentrum macht es möglich. Auch an besten Weinen und Spirituosen ist kein Mangel. Wenngleich auch hier der Bedarf nicht mehr so groß ist, was ich manchmal bedauere. Aber es ist ja oft so: wenn man möchte, sind die Mittel zumeist begrenzt. Wenn man es sich dann leisten kann, kann oder will man nicht mehr so recht. Die Bedienung des Bildschirms erfolgt über Spracheingabe. Ich unterhalte mich also mit einer Maschine. Meine Anweisungen werden in der Regel brav befolgt. Sollte ich für längere Zeit den Wunsch nach Stille verspüren, so wird diese zu meinem Leidwesen allzu oft unterbrochen, indem ich nach meinen Wünschen befragt oder an einen Termin erinnert werde.
Die Gedanken, die Worte, die sich wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht hatten, brachen ab. Der Kopf des alten Mannes in seinem Rollstuhl sank langsam nach vorn auf seine Brust. Die Stille im Zimmer wurde nur durch das unregelmäßige, leicht rasselnde Geräusch des Atmens des Alten unterbrochen. Von den bis zum Boden reichenden Fenstern war nur selten ein kurzes Pochen zu hören, wenn ein Hagelkorn, das sich unter die Regentropfen gemischt hatte, vom Wind gegen die Scheiben getrieben wurde. Ansonsten unterdrückte die gute Isolierung das Prasseln des Niederschlags, der sich, zuvor nur mäßig stark, mittlerweile zu einem heftigen Sommerschauer entwickelt hatte. Die aufziehende Dunkelheit wurde durch die tief hängenden dunklen Wolken noch verstärkt. Das ohnehin nicht allzu starke Treiben auf der Straße hatte noch weiter abgenommen und beschränkte sich nun nur noch auf einen gelegentlichen Passanten, der zumeist mit einem Regenschirm versehen versuchte, so schnell wie möglich und halbwegs trocken sein Ziel zu erreichen. Selten erhellte ein Auto mit seinen Scheinwerfern, deren Licht sich deutlich von dem warmen Leuchtton der Laternen abhob, ein wenig das Zimmer und streifte den Mann in seinem weißen Pyjama. Zunächst unmerklich begannen seine Hände immer mehr zu zittern. Schließlich schlugen die Handflächen mit einem sanften Klatschen fast gleichförmig auf die Armlehnen des Rollstuhls.
Durch die zum Flur geöffnete Tür schwebte lautlos eine kleine, silbrig schimmernde Halbkugel herein. Die flache Seite, mit einem Durchmesser von vielleicht 5 cm, war zum Boden ausgerichtet. So, als wüsste sie genau, was ihr Ziel und ihre Aufgabe war, steuerte sie mit gleichmäßigem Flug den Mann im Rollstuhl an und ließ sich auf dem Handrücken nieder. Unbeirrt von dem auf und ab der Hand folgte sie der Bewegung. Ein kurzes, leises Zischen, kaum wahrnehmbar in der Pause zwischen zwei klatschenden Schlägen der Hände, dann löste sich dieses Ding wieder vom Handrücken und verschwand auf dem gleichen Weg wie es gekommen war, geräuschlos und zielstrebig. Die silbrige Halbkugel hatte noch nicht einmal die Tür erreicht, als das Zittern der Hände unvermittelt abbrach. Der Atem des alten Mannes war bis auf ein leichtes Rasseln kaum wahrnehmbar und gleichmäßig. Dem kurzen Anfall, der augenscheinlich Kraft gekostet hatte, folgte nun ein erholsamer Schlaf.
Es war bereits fast acht Uhr als er erwachte. Die Augen noch geschlossen begann sich der Kopf von der Brust zu heben. Es war eine unendlich langsame Bewegung, losgelöst von seinem Körper, der völlig bewegungslos blieb. Langsam hoben sich seine Augenlider und eine graugrüne Iris wurde sichtbar. Anders als bei vielen betagten Menschen, deren Augen trübe erscheinen, waren diese Augen von einer Klarheit und kräftigen Farbe und passten gut zum leicht gebräunten Teint seiner Haut, die weitaus weniger Spuren seines hohen Alters aufwies, als man erwarten würde. Jetzt wandte er den Kopf zum Fenster, um kurz inne zu halten. Ein Moment der Orientierung und der Konzentration. Er fühlte die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht, die trotz der frühen Stunde schon weit über dem Horizont stand. Nun ja, es war Mitte Juni.
„Mein Gott, was mache ich hier. Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es? Es ist schon verdammt warm. Es wird wohl ein heißer Tag. Mein Gott, wie spät ist es?“ Seine kräftige Stimme hob die Stille des Zimmers auf. „Wie spät ist es?“ Der Klang der Worte war noch nicht einmal erloschen, als auf dem Bildschirm die Uhrzeit erschien und eine angenehme Frauenstimme die angezeigte Zeit auch verbal verkündete. Nach einer kurzen Pause fühlte sich die Stimme befleißigt, einen guten Morgen zu wünschen und sprach die Hoffnung aus, einen erholsamen Schlaf gehabt zu haben. Der alte Mann schien diesen Worten keine weitere Bedeutung beizumessen, sondern mit größtem Interesse die Vorgänge vor seinem Fenster zu verfolgen. Allerdings kann man vermuten,