Unglück. Iris Wandering

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Unglück - Iris Wandering

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sein. So wie es ihr Personaltrainer prophezeit hat, wenn sie sich nur an bestimmte Regeln hielte. Irgendwann, so hat Anna sich geschworen, würde sie es schaffen. Sie wird es ihren Geschwistern gleichtun. Und wer weiß, sie vielleicht eines Tages überflügeln.

      Bei dem Gedanken muss sie lächeln, denn sie hat es schlau angestellt: Während einer ihrer Brüder mit seiner Selbständigkeit jeden Monat schauen muss, dass für seinen großzügigen Lebensstil die Klienten auch vorhanden sind, und zudem auch tatsächlich zahlen, hat sie sich einen Konzern ausgesucht, bei dem es gute Aufstiegsmöglichkeiten gibt und der aufgrund seiner absoluten Notwendigkeit niemals aufgelöst werden würde. Anna, das Nesthäkchen, macht ihren Weg!

      Recht zufrieden mit sich und ihrer Arbeit, schließt Anna ihren Bericht. Aus ihrem Haarknoten zieht sie einen Bleistift heraus, sodass es ein wenig gelockt auf ihre Schultern fällt.

      Dann massiert sie leicht ihren Kopf, stärkt sich so für die nächste Aufgabe. Sie durchkämmt mit den Fingern das Haar und dreht es erneut zu einem losen Knäuel, das sie gleich wieder mit dem Stift am Hinterkopf feststeckt. Voller Tatendrang bewegt sie sich schwungvoll auf ihrem Drehstuhl an ihrem Schreibtisch entlang und greift zum Terminkalender. Was steht als Nächstes an?

      Mittwoch, 7. Januar 1998, Max´ Training

      Der Weg, der vor ihm liegt, ist Max sehr vertraut. Viele Jahre fährt er ihn schon, um zur Sporthalle zum Volleyball zu gelangen. Erst war es während der Schulzeit, später machte er einfach weiter, auch nach bestandenem Diplom, bis heute.

      Die Halle – oder besser der Weg dorthin – hält Vorfreude bereit. Die Aussicht auf einen schönen Abend oder bei Turnieren auf ganze Tage. Und die Gesellschaft seiner Mannschaft ist genau richtig für ihn, denn Max redet nicht viel. Bei seinen Leuten ist das auch nicht nötig. Nach Fußball und Hockey ist Volleyball so ziemlich das Einzige, was Max nie spielen wollte. Ausgerechnet ein Mannschaftssport. Und doch ist er nach der Schule auch während des Studiums immer dabeigeblieben. Aber am Netz kommt ihm auch seine Größe zugute.

      Max hinterlässt eine kleine schmale, etwas eierige Spur auf dem ansonsten bretthart gefrorenen Feld, als er es mit seinem Mountainbike überquert. Die Lederjacke, die er trägt, ist zwar ein Lieblingsstück, aber eigentlich viel zu dünn für den Winter. Seine Schwester Silvia soll endlich einmal den lang versprochenen Flicken auf den Ärmel nähen, dann würde es vielleicht nicht ganz so stark ziehen. Sie hätte das passende Stück noch nicht gefunden, sagt sie. Was immer das heißen mag.

      «Wie wärs mit schwarz auf schwarz?», hatte er vorgeschlagen, aber sie hatte wie immer etwas, das man dabei zusätzlich beachten sollte.

      Die Kälte der kommenden Nacht fällt nicht nur von oben herab. Sie steigt auch aus den Feldern herauf und macht sich breit, mischt sich unter die feuchten Schneeflocken. Leicht und vereinzelt rieseln ein paar auf ihn herab. Das ist aber auch das Einzige, was gerade locker und flockig ist, denkt Max.

      Bisher kommt ihm sein Leben eher wie ein vielschichtiger Arbeitsplatz vor, wie gestern beim Streichen zum Beispiel: Seine Heimat wird er später finden, hatte er überlegt, während er die stark verrußte Wand oberhalb des Kamins hell gestrichen hatte. Und gestrichen hatte er natürlich erst, nachdem er den Bereich mit Spülmittel versetztem Wasser vom Fett gereinigt hatte und sie wieder trocken war. Sähe besser aus, hatte Silvia gemeint. Ob das wirklich hilft, einen Käufer für das Haus zu finden? Später ist bald. Hell und freundlich ist immer gut, sagt seine Schwester. Aber sie ist ja auch nicht immer da, um zum Beispiel zu streichen oder ihre vielen guten Vorschläge selbst umzusetzen. Es beginnt tatsächlich richtig zu schneien. Er hält sein Rad an.

      Max blickt vom Boden auf. In diesem Moment spürt er die kalte Luft noch klarer, die sich in seinen Lungen ausbreitet und dort langsam erwärmt. Max hebt den Kopf weiter, fühlt die zarten Schneeflocken auf seiner Haut schmelzen. Er kann sie in der spärlichen Beleuchtung vom Stadtrand her im Dunkeln auf dem Feld stehend nicht sehen, sondern nur spüren.

      Seine Füße, die nun neben dem Rad stehen, nehmen den harten Boden und die Kälte wahr, die in sie hineinkriecht. Der Himmel in Richtung Stadt ist gelb-orange-grau verhangen. Aber in klaren Nächten kann er in der Ferne, über das Feld zurückblickend in Richtung Kasseler Berge, die Sterne sehen.

      Das Leben ist holperig, genauso wie der Boden unter seinen Füßen. Nicht mehr, nicht weniger. Das ist sein Leben und wird es bald gewesen sein, denn es wird alles einfacher werden.

      Eine gewisse Erwartung löst sich vom kalten Boden und steigt beginnend an der Basis, seinen Füßen, in ihm auf. Weglaufen war nie sein Ding. Die Knie bleiben da wo sie sind, und zittern unsichtbar ein wenig der ungewissen und unverplanten Zukunft entgegen. Seiner eigenen Zukunft, der er sich stellen wird. Mit gutem Bauchgefühl wird er schließlich – seinem klaren Kopf sei es gedankt – loslegen.

      Die Sterne hinter sich zurücklassend setzt er seinen Weg fort. Egal welchen Weg er einschlagen wird, jeder Weg hält Überraschungen für ihn bereit. Das, was er sich bisher untersagt hat, ist dann erlaubt und greifbar nahe, wenn er erst einmal den Absprung geschafft haben würde.

      «Wer keine Ziele hat, kommt auch nirgends an», sagte der Deutschlehrer.

      «Komm sicher an mit Bus & Bahn», steht auf den Stadtbussen.

      «Wenn die Götter uns prüfen, erfüllen sie unsere Wünsche», stammt aus einem von Silvias Knutschfilmen. Mal sehen, was das für Wünsche sein werden. Aber erst mal gehts weiter zur Sporthalle.

      Wäre Anna nicht vor einem Jahr hinzugekommen, hätte dieser Sport vermutlich keine solche Anziehungskraft mehr auf ihn. Wer weiß, seine Schnelligkeit und das Gefühl, immer auf dem Sprung zu sein, passen doch eigentlich ganz gut hierher. Außerdem mag er das Gebäude, das er seit seiner Kindheit kennt und den Weg dorthin mag er auch. Der Ort seiner wöchentlichen kurzen Auszeit, abgesehen von den Treffen mit Anna.

      Sie hat genauso wenig Zeit, auch da passen sie gut zusammen. Denn er muss nicht immer wieder erklären, dass es zurzeit so ist wie es ist.

      Die Hallenbeleuchtung wirft helle, verzerrte Rechtecke auf den Vorplatz, auf dem schon ein wenig Schnee liegt. Die dünne weiße Schicht sieht aus wie Puderzucker. Genau wie beim Schneemannbauen braucht man jede Menge davon, wenn man eine Glasur machen möchte. Wann hat er eigentlich das letzte Mal diese scheußlich süßen «Amerikaner» gebacken? Mehr als eine Ewigkeit ist das her. Er schließt sein Fahrrad an einem Laternenpfahl an.

      Im Umkleideraum der Herren trifft er auf ein paar Leute seiner Mannschaft. Viele von ihnen stammen noch aus der ehemaligen Jugendmannschaft. Sie begrüßen sich kurz und wünschen sich zurufend oder schulterklopfend ein gutes neues Jahr. Aus dem Umkleideraum nebenan hören sie das, was aus der Damenumkleide immer zuhören ist – obwohl es nur wenige Frauen sind –, bei jedem neuen Eintreten zuerst Neujahrsglückwünsche, mit und ohne Kussgeräusche, dann Kichern, Lachen und jede Menge Tratsch, normalerweise gemischt mit ein paar Fakten aus der vergangenen Woche.

      Heute allerdings mehr, denn über Weihnachten und Neujahr haben sie nicht trainiert und es haben sich ein paar Worte mehr angesammelt. Wozu sich selbst unterhalten, wenn doch von dort alles so gut zu hören ist? Und mit etwas Geduld erfährt man vor dem Spielen in etwa das Gleiche, was sie unter Männern erzählt hätten, hier vermutlich nur kürzer und mit etwas anderen Worten.

      Er zieht sich um, nicht wissend, dass er manchmal beneidet wird. Max ist groß und schlank, das schon. Dass seine hellen Augen und das dunkle Haar, das sich um seinen Kopf ringelt, in manchen Augen Aufsehen erregt, weiß er nicht so ganz genau. Er ist ja auch nicht der Einzige, der so aussieht. Für seinen Schopf kann er genauso wenig wie für

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