Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean

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Der Sommer der Vergessenen - René Grandjean

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an. Der Boden bebte. Bamm, Bamm, Bamm!

      „Jetzt, jetzt, jeeetzt!“

      Starker Wind kam auf. Er bog die Bäume, verwirbelte den Schnee. Die Böen peitschten Tweed, trieben ihn vor sich her. Dann rollte ein Donner durch den Wald, wie es keinen zuvor gegeben hatte. Und mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst der Hügel. Die Wucht der Explosion warf Tweed in die Büsche. Die Eiche ließ ein donnerndes Lachen erschallen.

      „Jaaa! Es ist so weit!“

      Und dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, endete es. Tweed rappelte sich auf. Gespannt hielt er den Atem an. Nur ein dampfender Krater war zurückgeblieben. Die Eiche schien sehr zufrieden damit.

      „Es ist fast geschafft. Und nun – steh auf!“

      Der Wald schwieg voller Ehrfurcht. In der Tiefe der Grube war eine Bewegung zu erahnen. Nur ein Schatten in der Finsternis. Und dann streckte sich eine schwarze Pfote, dunkler als das Dunkel selbst, durch den wallenden Nebel hinauf in die Nacht. Und ein Arm, dünn und lang, und mit dem Schwärzesten aller Felle besetzt.

      „Steh auf, mein Kind. Es ist Zeit.“

      „Meister?“, knarzte die Stimme aus dem Inneren des Kraters. „Na endlich. Mir ist saukalt!“

      Kapitel 1

      Rolo hatte sich an jenem Morgen schon zweimal übergeben. Frau Gottlieb, seine Lehrerin für Mathematik, hatte es wiederholt abgelehnt, ihm in den Waschraum für Jungs zu folgen, um sich die Beweisstücke anzuschauen. Sie ignorierte die Unruhe im Klassenraum und zog unbarmherzig ihren Unterricht durch. Nur die Streber in den ersten Reihen folgten ihren Ausführungen über natürliche Zahlen, als ob nichts Besonderes wäre. Dabei war heute nicht weniger als der beste Tag des Jahres. Der letzte Schultag vor den Sommerferien.

      Patze, Rolos Freund und Tischnachbar, versuchte ihn hartnäckig davon zu überzeugen, dass es saukomisch wäre, wenn er Spuckkugeln auf die erste Reihe abfeuern würde. Als Rolo darauf nicht ansprang, was ungewöhnlich war, blickte Patze ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Mitleid an.

      „Alter, du siehst echt mies aus. Geh nach Hause, bevor es hier ein Unglück gibt.“

      Rolo strich sich das schwarze Haar aus der Stirn. Er schwitzte. Diese plötzliche Übelkeit hatte ihn in den letzten Wochen mehrmals heimgesucht. Und immer in unpassenden Momenten. Im Hallenbad konnte er sich diesen Sommer nicht mehr sehen lassen. Wenn das so weiter ging, musste er seinem Vater davon erzählen. Er schaute auf die große Uhr über der Tafel. Erst fünf vor neun. Es war wie verhext. Jede neue Minute verging langsamer als die vorherige. Der Minutenzeiger schien sich auf seinen Runden an den Ziffern fest zu klammern. Rolo konzentrierte sich darauf, ihn mit der Kraft seiner Gedanken zu beschleunigen. Er wusste, dass er das nicht konnte. Er war ja kein Spinner. Aber der Versuch allein war spannender als Mathe. Patze schubste ihn an.

      „Alter, du guckst so verkniffen. Geh lieber zum Klo.“

      Tina, die hinter ihnen saß, stopfte Rolo einen Zettel in die Kapuze seines Pullis. Er fischte ihn umständlich raus und faltete ihn auseinander. Es war eine Zeichnung von Rolo. Sie zeigte ihn mit dem Kopf in der Toilette. Darunter stand Rolo Kotzgut. Patze zog den Zettel zu sich rüber, zerknüllte ihn und warf ihn Tina treffsicher vor die Stirn. Rolo grinste. Nicht, dass er sich nicht selbst wehren konnte. Aber Patze war schon seit dem Kindergarten sein selbsternannter Leibwächter. Er riskierte einen vorsichtigen Blick zur Uhr. Wenn man zu oft hinsah, verging die Zeit noch langsamer. Zu seiner Überraschung stand der Zeiger schon auf fünf nach. Auch die Übelkeit hatte etwas nachgelassen.

      Rolo blickte an Patze vorbei aus dem Fenster. Er hätte auch gern den Fensterplatz gehabt, aber Patze war nun mal größer und stärker als er. Dafür konnte Rolo schneller rennen.

      Draußen war fantastisches Wetter. Am blauen Himmel war nur eine einzelne dunkle Wolke zu sehen. Sie zog ungewöhnlich schnell. Rolo schaute genauer hin. Das war gar keine Wolke. Es war ein großer Schwarm Krähen. Sogar der größte Schwarm, den er je gesehen hatte. Es mussten Hunderte der schwarzen Vögel sein. Und sie kamen schnell näher. Schon fiel ihr Schatten auf die nahen Stoppelfelder. Auf ihrem jetzigen Kurs würden sie sehr dicht über das Dach der Schule fliegen. Rolo wurde es mulmig. Er schob seinen Stuhl zurück und trat ans Fenster. Die Vögel machten keine Anstalten, an Höhe zu gewinnen.

      „Sind die blind? Hey!“ Er wedelte mit den Armen. Nur noch wenige Meter. Ihr Krächzen drang schon in den Raum. Dann prallte die erste Krähe gegen die Scheibe. Mit ausgebreiteten Schwingen hackte sie auf sie ein. Rolo sah das Funkeln in den schwarzen Augen. Er wich zurück. Schnell war die ganze Fensterfront ein Chaos aus schlagenden Flügeln und scharrenden Schnäbeln. Es wurde dunkel. Rolo wandte sich zu Patze. Aber es war nicht mehr Patze, der auf dem Stuhl neben seinem saß. Es war ein alter Mann. Sein schütteres Haar hing ihm in fettigen Strähnen vom Kopf. Er war klein, uralt und faltig. Und er grinste wie eine Hyäne. In diesem Augenblick zerbarsten die Fenster unter der Attacke der Vögel in tausend Scherben. Rolo warf sich zu Boden und verbarg den Kopf unter den Armen. Die Krähen schwirrten wie von Sinnen durch den Raum. Rolo schaute auf, suchte nach einem Ausweg. Da sah er, dass der alte Mann keine Beine hatte, sondern den Unterleib einer Made. Die weiße Haut war halb durchsichtig und glänzte feucht. Und zwischen den Krähen sah er ein Wesen auf sich zukommen, das ihm auf seltsame Weise vertraut war. Es hatte lange dünne Arme und Beine. Sein ganzer Körper war von weißem und braunem Pelz bedeckt. Das Gesicht war dunkel um die Augen, mit einer spitzen Schnauze und einer Stupsnase. Und es rief seinen Namen. Aber die Krähen ließen es nicht zu ihm durch. Der Madenmann lachte das gackernde Lachen einer Hyäne. Sonst rührte er sich nicht. Rolo fasste sich ein Herz und kam auf die Beine. Die Krähen stürzten sich sofort auf ihn. Ihre Schnäbel zerhackten die Haut in seinem Gesicht. Rolo schlug wild um sich und schrie. Der Schrei schraubte sich rauf wie eine Sirene und ließ die Krähen platzen wie Luftballons. Es regnete Blut und Federn. Der Madenmann klatschte Beifall und lachte. Dann streckte er die Hand nach Rolo aus. Rolo, von Blut überströmt, spürte zu seiner eigenen Überraschung das Verlangen, sie zu ergreifen. Doch als er seine Hand nach der des Madenmannes ausstreckte, kehrte wie aus dem Nichts das pelzige Wesen zurück. Mit einem beherzten Sprung überwand es den Raum, und mit einem gewaltigen Hieb seines Schwertes trennte es den Kopf des Madenmannes vom Rumpf. Als der Kopf über den Boden rollte, erkannte Rolo, dass es der Kopf seines Vaters war. Mitleid lag in den gelben Augen des Wesens, als ihre Blicke sich trafen. Plötzlich schwang es sein Schwert. Rolo sah die glänzende Klinge auf sich zukommen. Er schrie.

      „Alter“, raunte Patze.

      Es war totenstill im Klassenzimmer. Die Fenster waren nicht zerbrochen. Rolo blutete auch nicht. Keine Krähen. Mit offenen Mündern glotzten seine Mitschüler ihn an. Mitten in einer Divisionsaufgabe versteinert stand Frau Gottlieb an der Tafel.

      „Roland!“

      Rolo stand auf. Er war am ganzen Körper schweißnass, und ihm war schwindlig. Die Sohlen seiner Turnschuhe quietschten auf dem Linoleumboden, als er sich langsam zur Tür schleppte. Dann erbrach er sich in den Papierabfall.

      Rolo lag auf dem Bett. Sein Zimmer war in ein mattes, unwirkliches Licht getaucht. Durch den Spalt zwischen den geschlossenen Fensterläden fiel nur ein schmaler Streif Sonnenschein. Staubflocken tanzten darin umher. Frau Gottlieb hatte schließlich ein Einsehen gehabt und ihn nach Hause geschickt. Rolo fand, er hatte den Beweis für sein Unwohlsein eindringlich und für alle sichtbar erbracht. Zum Glück konnte jetzt erstmal sechs Wochen Gras über die Sache wachsen. Er war aus der Schule auf direktem Weg nach Hause gegangen, hatte seine Tasche in die Ecke geworfen und sich in sein Zimmer verzogen. Das war kein einfacher Tagtraum gewesen. Die kannte Rolo. Er hatte den Schmerz wirklich gespürt,

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