Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean
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Nach einem kurzen Abstecher ins Bad polterte er die gewundene Holztreppe hinab und raus in den Garten.
Sein Vater schien sehr vertieft in seine Lektüre. Er trug Sandalen, eine braune Cordhose und ein grünes T-Shirt. Schwarze Locken standen ihm vom wirr vom Kopf ab. Ein zerzauster Vollbart bedeckte das Gesicht. Er hätte viel jünger aussehen können ohne den Bart. Doch auch so hatte er sich für seine achtunddreißig Jahre einen gewissen jungenhaften Charme bewahrt. Das nicht zuletzt wegen seiner schlaksigen Statur. Seine blauen Augen blickten durch die dicken Gläser einer Hornbrille.
„Na Paps, mal wieder im Dunkeln angezogen?“, lachte Rolo und pflückte sich einen Apfel von einem niedrigen Ast.
Sein Vater räusperte sich und musterte ihn über den Rand seiner Brille. „Roland? Ich hab dich gar nicht kommen gehört.“
Rolo schauderte. Niemand nannte ihn Roland. Außer Lehrer und manchmal sein Vater.
„Ich war vor dir da. Wir konnten früher nach Hause. Letzter Schultag“, log er. „Jetzt sind Sommerferien!“ Er reckte begeistert die Arme in die Luft.
Sein Vater blieb völlig unbeeindruckt, blätterte eine Seite weiter und murmelte so etwas wie: „Ach so.“
Rolo rollte genervt mit den Augen. Wenn Paps in dieser Stimmung war, hatte es keinen Sinn, mit ihm zu reden. „Gibt’s was zu essen?“, fragte er, um irgendwas zu sagen.
Sein Vater schaute nicht mal auf, als er antwortete. „Steht in der Küche.“
Rolo lief ins Haus.
„Und füttere den Kater!“, hörte er Paps noch rufen.
Drinnen war es angenehm kühl. Die schattige Diele mit dem tief hängenden Deckenleuchter durchquerte Rolo leicht gebückt, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Die Küche war nicht groß. In zahllosen Regalen stapelten sich Konservendosen und Tütensuppen, die Grundnahrungsmittel des Männerhaushaltes. Viele waren so alt, dass die Etiketten ganz blass und unleserlich geworden waren. Rolo nannte das Überraschungsessen. Auf einem Stuhl rekelte sich Igel. Der Kater war schwarz wie die Nacht mit bersteinfarbenen Augen.
„Guten Tag, Igel.“ Rolo warf einen Blick auf die Uhr. „Herrje, schon Viertel nach eins!“ Er beeilte sich, um nicht den Rest des Tages auch noch im Haus zu vertrödeln. Gespannt lüftete er den Deckel des Topfes auf dem Herd. Spaghetti. Es gab Schlimmeres. Während er aß, warf er Igel Nudeln zu, was der Kater mit dösiger Gleichgültigkeit hinnahm.
Stimmen vor dem geöffneten Küchenfenster ließen Rolo aufhorchen. Er stand auf und schaute hinaus. Es war seine Lehrerin, Frau Gottlieb.
„Verdammt!“ Er ahnte, dass ihm ein unangenehmes Gespräch mit seinem Vater bevorstand, und schloss das Fenster. Dabei fiel sein Blick auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Rolo war bestimmt eine Million Mal daran vorbei gelaufen, aber richtig betrachtet hatte er es noch nie. Seine Nase war genau so spitz wie ihre. Auch die glatten, schwarzen Haare hatte er von ihr. Nur waren seine kürzer und strubbeliger. Sie hatte auch grüne Augen. Wie er. Es war das einzige Bild, das er kannte, auf dem sie zusammen zu sehen waren. Wieso hatte sein Vater es eigentlich in die Küche gehängt? Mit ihrem bunten Kleid verschwand sie zwischen den Blumen, die auf der Wiese wuchsen, auf der sie saß. Rolo überlegte. Er war jetzt dreizehn. Dann war er ein Jahr alt gewesen, als das Foto entstanden war. Sie dreiundzwanzig. Er fand, sie sah nett aus, wie sie den Kopf in den Nacken warf und lachte. Ihre Hände wirkten riesig groß, wie sie seine kleinen Ärmchen umfassten. Sie hielt ihn ganz fest. Dass man seine Mutter vergessen kann, ging es ihm durch den Kopf. Sie war schon zwölf Jahre tot. Rolo kam ein Film in den Sinn, den er kürzlich gesehen hatte. Es war Peter Pan. Kapitän Hook drohte Peter mit dem Tod. Und Peter erwiderte: „Sterben, was für ein Abenteuer.“ Rolo stellte sich sterben vor wie einschlafen. Oder wie Stromausfall. Und dann wie vor der Geburt. Wäre es nicht prima, wenn man sich daran erinnern könnte, wie es vor der Geburt war? Dann müsste niemand mehr Angst haben vor dem Tod. Der Gedanke gefiel ihm. Der Tod seiner Mutter war plötzlich gekommen. Rolo wusste, dass man sagte, dass in diesem Moment das ganze Leben an einem vorbei zieht. Was sie wohl sah? Vielleicht ihn? Wäre sie an jenem Tag nicht mit dem Auto gefahren, wäre sie noch da. Hätte sie nicht ein bisschen besser aufpassen können? Der Gedanke machte ihn wütend. Er musste sich das doch auch jeden Tag anhören. Kletter’ da nicht hoch! Schneide dich nicht! Sei nicht so wild! Fass das nicht an! Als wäre er bescheuert! Das hätte Paps mal lieber dir erzählt: Fahr nicht so schnell. Er nahm sich vor, besser auf sich aufzupassen, wenn er mal eine Familie hätte. Plötzlich wusste er, warum er das Bild noch nie richtig angeguckt hatte. Es stach im Bauch. Er ärgerte sich. Heute begannen die Sommerferien, und er stand hier wie sieben Tage Regenwetter. Jetzt fuhren wieder alle in den Urlaub. Alle außer ihm. Sein Vater war so belesen. Er wusste fast alles über andere Länder, was es zu wissen gab. Aber mal hinfahren? Pustekuchen. Immer die Ausrede, sie könnten die Katze nicht allein lassen. Rolo glaubte, sein Vater hatte vor irgendetwas Angst. Darum ging er auch so selten raus. Nur wenn er musste. Er war wirklich ein Kauz. Zwar mit dem Herz am rechten Fleck, aber ein Kauz. Was hatte er gestern noch gleich gesagt? „Mit dem Kummer ist es wie mit einer Katze, die sich putzt. Man wird nie fertig. Ist hinter dem Ohr alles sauber, fängt man an den Beinen von vorne an.“ Manchmal erzählte er echt schräge Sachen. Wie er auch immer rumrannte. Rolo hätte ihm so gern mal was Cooles zum Anziehen ausgesucht. Er war seit ihrem Tod allein. Schon zwölf Jahre. Nicht richtig allein. Rolo war ja da. Aber trotzdem. Mit einer Frau im Haus wäre bestimmt vieles anders gewesen. Auf die hätte Paps vielleicht gehört. Ihm hörte er ja nicht mal zu. Er hat nicht gewusst, dass heute die Sommerferien beginnen. Das wette ich. Wenn sein Vater ihn mal in die Arme nahm, musste Rolo immer an die feierliche Begrüßung zweier Staatspräsidenten denken, die sich eigentlich spinnefeind sind und nur vor den Kameras der versammelten Weltpresse auf dicke Kumpels machten. Die umarmten sich auch immer so steif. Vielleicht wäre es gut gewesen, einen Bruder zu haben. Dann hätte Rolo jemanden zum Rumhängen, auch in den Ferien. Aber keinen großen. Dann müsste er noch dessen olle Klamotten auftragen. Und keinen kleinen, der ihm nur an der Schleppe hing. Wenn ich mal eine Familie habe, dann fahren wir jeden Sommer weg. Ans Meer. Nicht in die Berge. Er wunderte sich, was heute