Blutiges Freibier. Axel Birkmann
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Ein letzter Blick in den Spiegel, dann drehte er auf dem Absatz um, eilte zur Tür und öffnete. Ihm blieb die Begrüßung im Hals stecken. Vor ihm stand eine bildhübsche Frau mit langen blonden Haaren, die in alter Tradition zu einem Kranz hochgesteckt waren. Die junge Frau selbst steckte in einem hellblauen, klassischen Dirndl, mit weißer Schürze und Bluse und lächelte ihn verlegen an. Sie sah einfach hinreißend aus. Wie sie ihn so ansah und sein Outfit musterte, hatte er fast seine Schmähtiraden von vorhin über Trachten und Verkleidung vergessen. Melanie sah zum Anknabbern aus. Sie beugte sich vor, gab ihm einen zaghaften Kuss auf die Wange und sagte: »Können wir, Kreiti? Es wird sicher voll heute.«
Kreithmeier fand seine Stimme wieder und murmelte nur ein knappes Ja. Dann zog er hinter sich die Türe zu, Melanie hängte sich an ihm ein und sie schlugen zu Fuß den Weg in die Isarauen ein, eigentlich direkt zur Luitpoldanlage, zum Festplatz, auf dem anlässlich des diesjährigen Freisinger Volksfestes das Bierzelt, die Fahrgeschäfte und die diversen Wurf-, Schieß- und Fressbuden aufgebaut waren.
Es war Dienstag, der 11. September 2012. Und wie jedes Jahr am Dienstag während des Volksfestes würde heute im Festzelt die Stimmungsband Dolce Vita auftreten, die seit 1984 immer noch in der gleichen Besetzung die Bierzelte von Freising bis nach Straubing zum Kochen brachte. Sogar in Wernigerode im Harz traten sie auf. Und genau zu diesem Spektakel hatte Melanie ihn überredet, sie zu begleiten.
Mit ihrem Freund Richard Kramer, der emsigen Laborratte, wie Alois ihn immer genannt hatte, war seit kurzem Schluss, und so musste Alois wohl oder übel dran glauben. Dolce Vita.
Sie schlenderten über den Damm Richtung Festplatz. Es war warm, die Sonne schien: Kaiserwetter. Sie waren früh dran, das Konzert würde erst um halb Acht beginnen, aber man sollte früh genug vorher dort sein, denn sonst bekam man keinen Platz. Jedes Jahr feierten fast 6.000 Volksfestbesucher den Auftritt der Showband. Und Melanie wollte sie auf keinen Fall versäumen.
Sie hatte sich bei ihrem Kommissar an seiner rechten Seite untergehakt und genoss die warme Septembersonne auf ihren nackten Schultern. Sie war hart im Nehmen und hatte für den Abend keine Stola mitgenommen. Zur Not konnte Alois ihr ja seinen Trachtenjanker über die Schulter legen. Sie riss sich von ihm los, tänzelte mit ihren flachen Schuhen ein paar Meter vor ihm her, drehte sich im Gehen um und sagte: »Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass du umwerfend gut aussiehst? Vor allem für Jemanden, der so ein Geschiss ums Anziehen macht wie du.«
Sie warf ihm eine Kusshand zu.
Kreithmeier schüttelte verlegen den Kopf und stammelte nur ein kurzes »Nein«.
»Ja, du siehst richtig geil aus, zum Verlieben. Knackige Wadeln, breite Schultern, keinen Bauch, beim Friseur warst du auch noch, frisch rasiert, geil, einfach geil.«
Kreithmeier sagte nichts. Diese Worte aus dem Mund seiner Kollegin zu hören waren wie der Lobgesang der Sirenen. Und das dies gerade von ihr kommen musste, von einer Frau, die ihn immer wieder gefoppt hatte, mit seinem Übergewicht, seinem nervigen Rauchen und seinen üblen Essgewohnheiten. Obwohl eine Frau aus den neuen Bundesländern sicher nicht die nötige Kompetenz aufweisen konnte, einen waschechten Bayern in Lederhose und Trachtengewand richtig zu beurteilen. Aber es tat ihm gut.
Sie hakte sich wieder bei ihm ein und er gab ihr als Dank einen Kuss auf den Kopf. Es fühlte sich gut an, sie in seinen Armen zu haben. Als sie an der Luitpoldhalle vorbeikamen, konnte er einen kurzen Blick auf eines der großen Fenster erhaschen. Er konnte sie beide als Spiegelbild erspähen. Und er musste neidlos anerkennen, sie beide sahen großartig aus. Mister und Misses Bavaria. Ein großer kräftiger Mann in kurzer, knackiger Lederhose und ein blonder Rauschgoldengel im Tegernseer Dirndl. Alois schmunzelte. Seine muffigen Gedanken waren verflogen. Er war stolz auf sich. Und auf das Mädel, das neben ihm unruhig daher hopste. Jeder würde sie für ein Liebes- oder Ehepaar halten, dabei waren sie nur Kollegen. Und sie waren Freunde. Doch außer ein paar Umarmungen, ein paar Küsschen, war niemals etwas passiert. Und das war auch gut so. Uns so sollte es auch bleiben.
Sein letztes tiefgründiges sexuelles Erlebnis war eine Zeit lang her. Eine Wahnsinnsnacht mit einer Wahnsinnsfrau. Nur leider stellte sich später heraus, dass sie eine Mörderin war und ihre Sühne in einem Freitod suchte.
Danach hatte sich Kreithmeier in die Arbeit gestürzt und hatte seinen Mail-Account in einer der angesagten Freundschafts- und Heiratsvermittlungsbörsen geschlossen. Das letzte halbe Jahr war langweilig gewesen. Nach den beiden letzten Morden war nichts passiert. Die Domstadt Freising war wieder in ihren kriminalistischen Dornröschenschlaf versunken und die schlimmen Finger gaben sich in München oder in Augsburg die Hand. Er hatte die Zeit genutzt, seine Wohnung neu einzurichten, und somit etwas mehr Farbe und Gemütlichkeit in seine trutzige Festung gebracht.
Festung nannte Melanie immer seine vier Wände oder seine graue Trutzburg. Weil er sich nach der Trennung von seiner Frau, immer wieder in seine eigenen vier Wände zurück gezogen, und dem Sinn des Lebens hinter her trauerte, aber auch nichts unternommen hatte, um es farbiger, lebhafter und vor allem lebenswerter zu gestalten.
Statt seiner Frau hatte er jetzt einen Hund. Gizmo. Einen Mischling aus dem Tierheim. Weiß, kräftig, treu und anschmiegsam. Wie ein kleiner Eisbär sah er aus. Aber der kleine musste leider heute zu Hause bleiben.
Und Alois hatte sich in einem Fitnessstudio angemeldet. Ein wenig Ausdauersport. Krafttraining. Und er hatte seine Ernährung umgestellt. Statt Brötchen gab es Vollkornbrot, statt Marmelade Geflügelwurst und statt Tiefkühlpizza stand öfter frischer Fisch, Salat mit Hähnchenbrust und Gemüse auf dem Essensplan. Er hatte an Köperfülle abgenommen und an Kondition zugenommen. Sonst hätten die Klamotten niemals gepasst. Hatte er die Lederhose doch mit Sicherheit das letzte Mal vor über zehn Jahren getragen. Zur Kirchweih oder zu einer Trachtenhochzeit. Lang, lang war es her.
Das einzige Übel, von dem er noch nicht lassen konnte, war die Raucherei. Er hatte sie zwar stark eingeschränkt und nur noch auf ein paar Glimmstängel pro Tag reduziert. Aber wenn er nachdenken musste, oder wenn er mit Gizmo gleich am frühen Morgen durch die Isarauen schritt und dabei genüsslich eine qualmte, das hatte er sich noch nicht verkneifen können, bei allen Angriffen und Seitenhieben seiner Kollegin, das blieb. Das gönnte er sich noch. Es gab dann ja noch etwas, was man sich für 2013 vornehmen konnte. Der 31. 12. 2012 wäre das geeignete Datum, exakt an diesem Tag mit dem Rauchen aufzuhören. Doch das dauerte noch ein viertel Jahr. Und das wollte er genießen. Wie um dieses auch noch zu unterstreichen, zog er ein Päckchen Marlboro Light aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an.
Melanie sagte nichts, sie wusste, ein Kommentar von ihr könnte den Abend kippen und ihre und seine gute Laune verjagen. Sie hüstelte nur etwas und sah ihn fragend an.
»Na, ja, eine Letzte«, sagte er. »Im Bierzelt ist ja seit kurzem Rauchen verboten.«
»Das ist auch gut so«, kommentierte Melanie Alois Bemerkung, und biss sich auf die Zähne, um keine Grundsatzdiskussion über die gesundheitsgefährdeten Risiken des Rauchens vom Stapel zu lassen.
»Solange sie das Biertrinken darin nicht verbieten«, schmunzelte er etwas verlegen und blies den Rauch links zur Seite um Melanie damit nicht zu belästigen.
»Danke!«, sagte sie leise. Sie hatte es wohlwollend registriert, dass er ihr neues Dirndl nicht mit Nikotin geschwängerten Rauchschwaden imprägnieren wollte.
Alois sah sie an, dann schnippte er die Zigarette in einem weiten Bogen auf die Straße und lächelte: »Na gut, das war es erst einmal. Stürzen wir uns ins Getümmel. Hast du eigentlich etwas reserviert?«
»Der